Kapitel 15
Die eisige Kälte der Nacht
Das Leben eines Straßenkindes
Kapitel 15
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Es war am 10. Juni, ich weiß es genau. Ich wachte früh auf, sicher vor sieben Uhr, und es war bereits so hell wie am Mittag. Ich fühlte mich komisch leer, „drogenlos“, auch wenn ich nie zugegeben hätte, dass ich Drogen nehmen würde. Für mich waren das Lebensverschönerer, Aufputschpillen, harmlose. Ich verdankte ihnen mein Leben, ohne Pillen wäre ich längst zu Grunde gegangen.[/FONT]
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Ich war nur noch ein Strich in der Landschaft, musste mir ständig neue Klamotten besorgen, weil mir die vorherigen immer zu weit wurden. Meine Haare waren strähnig, fettig, lang und spröde. Aber ich kümmerte mich auch nicht darum.[/FONT]
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An diesem Morgen wollte – musste – ich mir unbedingt Pillen besorgen. Ich hielt es nicht ohne aus; es war fürchterlich. Mein Hals war trocken, ich hatte Kopfschmerzen. Meine Zähne schmerzten ebenfalls, sie waren gelb und ich hatte bestimmt schon einige Löcher. Mit Pillen vergaß ich all die Schmerzen, sie wurden bedeutungslos. Mein Dealer war im Park und auf dem Weg dorthin musste ich durch die ganze Stadt. Ich schlenderte in raschem Schritt, den Kopf auf den Boden unter mir gerichtet. [/FONT]
„[FONT=Bitstream Vera Serif, serif]
Hey!“, rief jemand und ich schaute nicht hoch, es betraf ja sowieso nicht mich. Doch dann klopfte mir jemand auf die Schulter. Ich sah auf, und da erkannte ich sie: es war Laura. Toms große Schwester Laura. Ich konnte es nicht fassen und starrte sie an, ihre Haare hatte sie diesmal offen und das sah schön aus. Sie trug ein schlichtes, blaues Kleid, wahrscheinlich war sie auf dem Weg ins Krankenhaus.[/FONT]
„[FONT=Bitstream Vera Serif, serif]
Bist du es, Hannah?“ Sie runzelte die Stirn. Ich konnte nichts sagen, mein Mund fühlte sich geschwollen und voll an.[/FONT]
„ [FONT=Bitstream Vera Serif, serif]
Du siehst... nicht gerade gut aus“, fuhr sie fort und musterte mich. „Wie dünn du bist... Ich habe dich zwar nur kurz gesehen, damals, aber du hast ganz anders ausgesehen.“[/FONT]
„[FONT=Bitstream Vera Serif, serif]
Lassen Sie mich“, zischte ich unfreundlich und versuchte, wegzugehen. Aber sie hielt mich fest. „Hey!“, brüllte ich.[/FONT]
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Hannah, was ist los? Weißt du eigentlich, wie sehr Tom wegen dir leidet?“[/FONT]
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Tom. Tom. Tom. Mein Herz hämmerte in mir wie verrückt. Wie konnte ich Tom nur vergessen? Ich hatte Tom doch geliebt. Und dann gehasst... oder doch nicht? Auch Fritz und Sabrina und Anna und all die, an die ich täglich gedacht hatte, vergaß ich völlig. Warum nur? [/FONT]
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Ich bin gerade ein bisschen platt, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe.“ Sie lachte kurz, dann wurde sie wieder ernst.[/FONT]
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Was ist geschehen?“, fragte mich Laura fürsorglich mit einem Blick, den ich noch nie gesehen hatte. Er war aber nett, sehr, sehr nett.[/FONT]
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Nichts“, erwiderte ich locker und rollte mit den Augen.[/FONT]
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Klar, nichts. Warum bist du bloß fortgelaufen? Ich meine von Tom, er hat dir doch nichts getan.“[/FONT]
„[FONT=Bitstream Vera Serif, serif]
Er ist mit Fritz befreundet“, murmelte ich düster.[/FONT]
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Quatsch“, fauchte Laura. „Ich erkläre es dir, wenn du mit mir ins Café kommst. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit, die ich eigentlich mit meinem Freund verbringen wollte. Aber gerade jetzt bist du und das Wohl von Tom mir wichtiger. Also komm. Bitte.“ Sie lächelte mir tapfer zu. Und da ging ich mit.[/FONT]
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Das Café war so gut wie leer und ich schämte mich ein bisschen, weil alles so vornehm war und ich so eintrat. Auf dem Tisch standen kleine Kerzen mit Rosen, die ich immerzu anschaute, weil ich nicht wusste, wo ich sonst hinschauen sollte.[/FONT]
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Wie geht’s dir denn so?“ Sie schaute mich an, ich sie allerdings nicht.[/FONT]
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Gut“, antwortete ich ganz knapp.[/FONT]
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Schön“, murmelte sie ungläubig und biss sich auf die Lippen.[/FONT]
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Ich finde es unfair, was du allen antust.“ Sie seufzte und ich horchte auf. „Tom hat deine Mutter kontaktiert, vor einem halben Jahr. Wir beide sind jetzt ziemlich gut befreundet dadurch. Weißt du eigentlich, dass sie seit fast einem Jahr nicht mehr schläft?“[/FONT]
„ [FONT=Bitstream Vera Serif, serif]
Verdammt, das ist nicht dein Recht! Alle zu verletzen. Ich kenne dich nicht, Hannah, aber durch deine Mutter weiß ich viel über dich. Sie macht sich solche Sorgen. Ich verstehe das nicht...“[/FONT]
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Ich konnte heulen, tat es aber nicht. Ich fühlte mich schrecklich gedemütigt und komisch, in meinem Bauch wirbelte es vor Emotionen. Tränen konnte ich nur schwer verhindern.[/FONT]
„[FONT=Bitstream Vera Serif, serif]
Hat sie einmal von der Weltreise erzählt? Oder davon, dass ich ihr die ganze Zeit egal gewesen bin?“, murmelte ich traurig und starrte weiter zur roten Rose, die vor mir stand.[/FONT]
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Du bist ihr doch nicht egal!“, rief sie empört. „Weißt du im übrigen, dass du als vermisst gilst?“[/FONT]
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Ich machte nichts, saß weiter still auf meinem Stuhl und sehnte mich nach meiner „Elefantenpille“.[/FONT]
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Tom ist nicht mit Fritz befreundet. Er war, ja, täglich spielten sie zusammen, als sie klein waren. Aber nach dem... Mord, da hat er ihm die Freundschaft natürlich gekündigt. Er würde nie einen Mörder als Freund haben, Hannah, das weißt du! Seitdem hat er nie mehr mit ihm gesprochen. Und Fritz ist im Übrigen angeklagt, wegen Totschlags...“[/FONT]
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Ich schwieg und schloss die Augen. Das schien alles so unwirklich.[/FONT]
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Er wird mit ziemlich hoher Sicherheit lange ins Heim kommen. Aber das kann dir ja egal sein, oder? Ich meine, du hast nichts mehr damit zu tun. Du selbst jetzt für dich auf der Straße, alles kann dir egal sein, es hat ja schließlich nichts mit dir zu tun, hab ich Recht?“[/FONT]
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Hör auf!“, brüllte ich so laut, dass es mir danach wie die Kehle zurschnürte. Noch nie, nie in meinem Leben, hatte ich so laut geschrien. Und es tat gut. Ich stand auf, zitterte am ganzen Körper. Sie sollte aufhören, aufhören, aufhören...[/FONT]
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Es kann dir egal sein! Es geht dich nichts an! Du hast etliche Menschen verletzt!“[/FONT]
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Ich hielt mir die Ohren zu, ich konnte es nicht hören. Aufhören, aufhören, aufhören! Das Zittern wurde mehr, und da sah ich sie ein letztes Mal an. Danach stürmte ich aus dem kleinen, unschuldigen Café, Tränen strömten über mein Gesicht. Ich fühlte mich bleischwer, und zwar so richtig. Meine Augen brennten, meine Beine schienen mich nicht mehr zu tragen, aber sie liefen weiter.[/FONT]
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Ich brauchte jetzt Pillen, einfach nur Muntermacher, ohne sie konnte es nicht weitergehen. Ohne Pillen war das Leben sinnlos. Aber mit Pillen konnte man fröhlich sein und lieben und leben.[/FONT]
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Doch dann stürzte ich ab.[/FONT]