Nelly war neugierig, wie es dazu gekommen war, dass sich die eingeschüchterte kleine Mary, die sie von früher kannte in diese selbstbewusste, starke Frau, die sie jetzt war, verwandelt hatte.
Wenig später saßen die beiden Frauen vor einer dampfend-heißen Tasse Tee beisammen, um sich ihre steif gefrorenen Glieder aufzuwärmen und einander zu erzählen, wie ihr jeweiliger Lebensweg in den Jahren, die sie voneinander getrennt hatten, verlaufen war.
„So, Edward weilt also auch nicht mehr unter den Lebenden!? Nun, du warst ja fast eben so unglücklich in den Anfangszeiten deiner Ehe mit ihm wie ich mit Harold. Nur musstest du Ärmste das Martyrium noch länger ertragen als ich. Mein Mann starb bereits, nachdem wir erst 5 Jahre verheiratet waren. Gott verzeih mir meine Aussage, aber ich war nicht unglücklich darüber!“
„
Du erinnerst dich bestimmt noch an all die blauen Flecken, die damals meinen ganzen Körper zierten. Ich war erleichtert, als er starb, aber ich habe mir nie anmerken lassen, wie sehr ich ihn hasste.
Er starb in meinen Armen und ich glaube, er dachte bis zum Schluss, ich sei die ideale Ehefrau: demütig, gehorsam, nie aufmuckend.
Und ich war es auch! Äußerlich. Insgeheim habe ich ihn zur Hölle gewünscht. Doch immerhin hat er mir das Haus und sein gesamtes Vermögen vermacht, wir hatten keine Kinder – ein, in meinen Augen, gerechter Ausgleich dafür, was er mir in den Jahren unserer Ehe angetan hat. Ich bin versorgt, ich brauche nicht viel Geld für mich selbst, aber mein Reichtum hilft mir dabei, anderen zu helfen und für eine Sache zu kämpfen, die viel Unterstützung braucht.“
Als Nelly an diesem Abend nach Hause ging, war sie recht nachdenklich gestimmt, aber auch innerlich von einer gelassenen Zufriedenheit erfüllt. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie konnte das, was sie heute miterlebt hatte, nicht einfach so hinnehmen. Sie hatte ein Ziel vor Augen, das es wert war, ihre Arbeitskraft, ihren Verstand und ihr Herz zu investieren.
Jesse, liebender Ehemann der er war, konnte seiner Gattin ihren Wunsch natürlich nicht abschlagen, außerdem hatte die Vereinigung, deren Anführerin Mary war, sich bereits durch ihre friedlichen, aber vehementen Aktionen einen guten Ruf geschaffen.
Jesse hieß es also gut, dass seine Ehefrau sich daran beteiligte.
In letzter Zeit hatte er sich ohnehin schon Sorgen gemacht, weil sie ihm unzufrieden erschien und ihre Tage unausgefüllt waren.
Nur Jules war entsetzt, als ihm seine Mutter begeistert von ihren Plänen erzählte.
„Du willst dich doch nicht lächerlich machen, Mum!?“
„Wogegen willst du eigentlich kämpfen? Es gibt nichts, worüber du dich so echauffieren musst! Ich selbst bin ein Schwarzer und habe genügend weiße Freunde, werde in ihre Häuser eingeladen, feiere mit ihnen Partys. Es gibt keine Unterschiede!“
Nelly blickte ihren Sohn erstaunt an. Sie hätte ihn nicht für so bläuäugig gehalten. Doch im selben Augenblick fiel ihr ein, dass er – genau wie sie selbst – bisher nichts von der rauen, wirklichen Welt, die draußen vor ihrem Villenviertel herrschte, mitbekommen hatte.
„Es GIBT Unterschiede, Jules! Wir haben es nur bisher nicht bemerkt, weil wir in der Gesellschaftsklasse, der wir dank dem Geld deines verstorbenen Vaters angehören, eingeschlossen sind. In den sogenannten „höheren Kreisen“ ist die Hautfarbe vielleicht kein Thema, aber für den Mann, die Frau, das Kind da draußen ist es sehr wohl ein Thema, mit dem sie jeden Tag aufs Neue konfrontiert werden!“
Sie sah ihm an, dass er ihre Meinung nicht teilte, doch daran war sie ja bereits gewöhnt. Jules war mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden und was um ihn herum und über seinen kleinen Horizont hinaus passierte, interessierte ihn nicht.
Als Jules ihr wortlos den Rücken zukehrte, um – wie inzwischen fast jeden Abend – auszugehen, blieb Nelly traurig am Küchentisch sitzen.
Wie konnte es sein, dass sie zwei so völlig verschieden geartete Söhne zur Welt gebracht hatte?
Der eine kümmerte sich um überhaupt nichts, das nicht seinen engsten Kreis betraf und der andere schien die Last der ganzen Welt auf seine Schultern zu nehmen.
Heute Abend, als sie nach Hause gekommen war, hatte sie nämlich einen langen Brief von Greg im Postkasten vorgefunden.
[FONT="]„Liebste Mutter![/FONT]
[FONT="]Es ist nun nahezu anderthalb Jahre her, dass wir einander nicht mehr gesehen haben. Wie sehr ich dich vermisse, brauche ich dir wohl nicht zu beschreiben – gerade jetzt, wo das Weihnachtsfest wieder so kurz bevor steht.[/FONT]
[FONT="]Unsere Station hier läuft gut. Nahezu jeden Tag steht eine neue Familie vor unserer Tür, die unsere Hilfe benötigt. Fast wird es uns allen hier schon ein wenig zu viel – die Menschen hier sind sehr arm und besitzen meist nicht einmal das Lebensnotwendigste. Doch wir helfen allen gerne, obwohl es uns selbst an Vielem mangelt, das wir so notwendig brauchen würden. Zum Beispiel Medikamente! Mr. Kraus, der deutschstämmige Missionsvorsteher, der wirklich wahre Wunder bewirkt und es immer wieder schafft, aus irgendwelchen verborgenen Quellen das herbeizuholen, worauf wir ansonsten monatelang warten müssten, ist selbst schon am Rande der Verzweiflung und weiß oft weder ein noch aus.[/FONT]
[FONT="]Die Menschen hier wehren sich gegen die Kolonialisierung durch die Franzosen, es gibt viele aufständische Gruppierungen, einige kriegerische Nomadenstämme lehnen sich mit zähem Widerstand gegen die französische Kontrollmacht auf. Sie kämpfen für ihre Unabhängigkeit und die Situation gerät von Tag zu Tag mehr aus den Ufern.[/FONT]
[FONT="]Wie gerne würden wir ihnen beistehen, doch wir können nur das Notwendigste geben: Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf für ein paar Nächte.[/FONT]
[FONT="]Ihre Freiheit können wir ihnen nicht geben, doch es ist ein stolzes Volk und eines Tages – er kann nicht mehr in allzu weiter Ferne liegen - werden sie erreichen, wofür sie eintreten, wofür sie ihr ganzes Herzblut geben: Ihre Autonomie und ihre Unabhängigkeit von der Fremdherrschaft![/FONT]
[FONT="]Ich will diesen Tag miterleben – und zwar hier, inmitten der Ereignisse![/FONT]
[FONT="]Doch nun zu etwas anderem, Mutter, das dich bestimmt mehr interessieren wird als die politische Situation in Mauretanien: Ich weiß, mit wie viel Liebe und Sorge du am Schicksal von Leora und mir teilnimmst, deshalb glaube ich, es ist deiner Aufmerksamkeit auch sicher nicht entgangen, zu wissen, dass Leora im kommenden Februar ihren 21. Geburtstag begehen wird. Da sie mit diesem Zeitpunkt ihre Volljährigkeit erreicht und nicht mehr die Unterschrift ihres Vaters braucht, um irgendwelche Dokumente zu unterzeichnen, wird der 15. Februar 1923 der Tag unserer Hochzeit sein. Ja, du hast richtig gelesen, Mutter! Leora wird bald meine Frau sein![/FONT]
[FONT="]Freust du dich mit uns? Bestimmt tust du das! Denke an diesem Tag mit besonderer Liebe an uns, noch mehr als du ohnehin schon immer mit deinem Herzen bei uns bist. Wir werden dich besonders an unserem Ehrentag schmerzlich vermissen, doch wenn wir unsere Aufgabe hier guten Gewissens abschließen können und dieses Land, das wir so lieb gewonnen haben, als freies Land verlassen können, steht einem Wiedersehen nichts mehr im Wege.[/FONT]
[FONT="] [/FONT]
[FONT="]Tausend Umarmungen von deinem Sohn[/FONT]
[FONT="]Gregory[/FONT]
[FONT="]und deiner zukünftigen Schwiegertochter[/FONT]
[FONT="]Leora[/FONT]
Die Briefe, die Gregory aus Afrika schrieb, waren jedes Mal wochenlang unterwegs, bis sie sie erreichten und jedes Mal, wenn sie ein Kuvert mit fremdartig anmutenden Briefmarken und Poststempeln erhielt, war Nelly aufgeregt wie ein kleines Mädchen.
Sie nahm größten Anteil an den Ereignissen, die Greg und Leora in ihrer neuen Heimat erlebten.
Nun würden sie also bald heiraten!
Die Wochen vergingen wie im Flug. Das Weihnachtsfest wurde – wie immer – feierlich begangen, das erste Mal mit Jesse als Nelly’s Ehemann an ihrer Seite.
Das neue Jahr brach an und brachte für jedes der Familienmitglieder neue Aufgaben und Tätigkeitsbereiche.
Jesse hatte vor, das Hotel, dem er als Direktor vorstand, zu vergrößern und komfortabler und luxuriöser auszustatten, so dass er alle Hände voll zu tun hatte mit der Planung.
Nelly widmete sich mit Inbrunst ihren Pflichten als Mitglied des „Vereins zur Aufhebung der Rassentrennung“ und entwickelte gemeinsam mit ihrer Freundin Mary ständig neue Projekte und Entwürfe.
Jules…, na ja, Jules… sollte sich eigentlich auf seine Aufnahmeprüfung am College vorbereiten.
Er war ein gescheiter junger Mann und seine Mutter wünschte sich, dass er Jura studieren sollte. Das Problem war nur: Jules wusste zu diesem Zeitpunkt bereits mehr, als seine Mutter wusste und gab sich deswegen nicht die geringste Mühe beim Lernen. Er würde es nicht notwendig haben, einen Beruf zu ergreifen und deshalb hing er öfter seinen Vergnügungen nach, als ihm eigentlich gut tat.
Am Nachmittag des 15. Februars 1923 war Nelly allein zu Hause. An diesem Tag wollte sie von allen Pflichten entbunden sein und nur daran denken, was Tausende von Kilometern weit entfernt von ihr vor sich ging: Die Hochzeit ihres älteren Sohnes!
Tränen der Freude, aber auch der Sehnsucht traten in ihre Augen. Wie gerne wäre sie jetzt an Gregory’s Seite gewesen und hätte dabei zugesehen, wie er mit Leora den Bund fürs Leben schloss!
Mit jeder Faser ihres Herzens war sie an diesem Tag bei ihnen.
Doch das Leben ging weiter und bestimmt würde sie das glückliche junge Ehepaar in nicht allzu ferner Zukunft wieder sehen.
Ende März erhielt Nelly wieder einen Brief aus Afrika und sie riss ihn mit aller Hast auf.
[FONT="]„Es grüßen: Das frischvermählte Paar Gregory und Leora Kensington.[/FONT]
[FONT="]Gott hat uns zusammengeführt und nur Gott kann uns noch trennen.“[/FONT]
Tränen der Freude rannen über Nelly’s Gesicht, als sie das Hochzeitsfoto des jungen Paares, das dem Brief beigelegt war, betrachtete.
Sie wünschte ihnen alles Glück dieser Welt und war stolz darauf, dass die beiden ihren Weg so zielstrebig gingen.
Besonders in diesen Tagen, da Jules immer aufsässiger wurde, immer frecher und fauler, war Nelly recht froh darüber, dass sie wenigstens in Gregory einen Sohn hatte, der etwas aus seinem Leben machte und nicht, wie sein jüngerer Bruder, ständig auf irgendwelchen Partys herumschwirrte.
Oho, Nelly wusste genau, was in den Salons der jugendlichen Upper-Class von New Orleans vor sich ging, wenn zum „Nachmittagstee“ geladen wurde, doch sie konnte ihrem Sohn nicht verbieten, daran teilzunehmen, denn erstens gehörten die Eltern der einladenden Jugendlichen zur höheren und höchsten Gesellschaft der Stadt und zweitens wurde Jules bald 20 Jahre alt und ließ sich ohnehin von keinem mehr etwas sagen.
Wenn Nelly die Mitglieder ihres „Vereins zur Aufhebung der Rassentrennung“ zu sich nach Hause einlud, damit sie ihre monatlichen Besprechungen abhalten konnten, flüchtete Jules jedes Mal aus dem Haus.
Doch es war ohnehin nur mehr ein Ausnahmezustand, dass man ihn daheim – und nun gar beim Lernen – antraf.
So verging wieder einige Zeit.
Trotzdem dass Jesse und Nelly von ihren jeweiligen Aufgaben sehr in Anspruch genommen wurden, führten die beiden eine wundervolle Ehe, denn die Zeit, die ihnen gemeinsam verblieb, nutzten sie ausgiebig und legten großen Wert auf ihre Zweisamkeit.
Wenn nicht die Sache mit Jules gewesen wäre – Nelly hätte ihr Leben als vollkommen glücklich bezeichnen können.
So aber kreisten ihre sorgenvollen Gedanken oft um ihren jüngeren Sohn, der sich immer mehr zu seinem Nachteil entwickelte und von Tag zu Tag mehr seinem Vater zu gleichen schien in seiner aufbrausenden, ungestümen Art, seinem wachsenden Zynismus und seiner Jähzornigkeit.
Weihnachten 1923 verbrachte er nicht zuhause bei seiner Mutter und seinem Stiefvater.
Am späten Nachmittag des Heiligen Abends hatte er seinen Mantel übergeworfen, hatte ein murmelndes „Fröhliche Weihnachten“ in den Raum geworfen und war hinaus in die Kälte verschwunden, bevor irgend jemand ein Wort an ihn richten konnte.
Nelly versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie traurig und enttäuscht sie über das Verhalten ihres Sohnes war, aber ihr Mann kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, wie nahe es ihr ging und auch ihm selbst passte diese Sache ganz und gar nicht.
Er betrachtete Jules Benehmen als persönlichen Affront.
Anfangs waren sie noch leidlich gut miteinander ausgekommen, doch seitdem er und Nelly verheiratet waren, bereitete ihnen der Junge nichts als Probleme.
Jesse ahnte, dass Jules nicht so unbeschäftigt war, wie er es vorgab. Er ahnte, dass der junge Mann etwas im Schilde führte… - doch was konnte das wohl sein?
Jules war ein gewiefter Kerl und ließ sich nicht in die Karten blicken…