Das Weihnachtsfest im „Haus Aurora“ ging vorüber und war genau so wie Maybelle es sich vorgestellt hatte.
Ein gegenseitiges, gekünstelt-fröhliches „Frohe-Weihnachten“-Wünschen. Für jedes der Mädchen ein neues Ausgehkleid als Geschenk, wobei „neu“ nicht unbedingt bedeutete, dass es noch nie zuvor von jemandem getragen worden war, sondern „neu“ in dem Sinn, dass es frisch gewaschen und gebügelt von der „Kleidersammelstelle für bedürftige Kinder und Jugendliche“ überbracht worden war.
Ein paar halbverbrannte Kekse, die die Mädchen fabriziert hatten und die sich nur mit Unmengen von Pfefferminztee runterspülen ließen.
Ein gemeinsam gesungenes Weihnachtslied mit Klavierbegleitung von Rose, das aber auch kaum festliche Stimmung aufkommen ließ, weil einfach die Herzlichkeit fehlte und die ganze Atmosphäre nur steif und gezwungen war.
Genauso trostlos verlief die Silvesternacht und Maybelle dachte an den Tag vor genau einem Jahr zurück.
Damals war ihr Vater heimgekehrt und sie hatte geglaubt, dadurch würden sie alle wieder eine normale glückliche Familie werden.
Wie anders waren die Dinge seither doch verlaufen, als sie es sich vor einem Jahr vorgestellt hatte? Was war doch alles passiert in diesem einen Jahr? So viele entsetzliche Ereignisse waren geschehen: Der unaufhaltsame Untergang der Seele ihrer Mutter bis zu ihrer Einweisung in die Nervenheilanstalt, der schleichende Abstieg ihres Vaters bis zu seinem unfassbaren Selbstmord, die Trennung von ihrer Schwester Ruby, der Einzug in dieses bedrückend-düstere Haus, der fortwährende Spott und die Verachtung in der Schule, die sich mittlerweile in eine ablehnende Ausgrenzung verwandelt hatten…
Doch auch: Die anfängliche Freundschaft und nun allumfassende, tiefe Liebe, die Nick und sie verband – auch das hatte das Jahr 1950 ihr gebracht und Maybelle betrachtete dies als ein Geschenk, das zwar nicht alles, aber doch sehr viel aufwiegen konnte, was ihr an Schlimmen widerfahren war.
In den folgenden Wochen haderte Maybelle sehr viel mit sich selbst. Ende Januar war ein zweiter Brief von Ruby und ihrer Stiefmutter eingetroffen, in dem beide nochmals ausdrücklich ihre Einladung, sie zu besuchen, wiederholten.
Schließlich sagte Maybelle zu, obwohl ihr nicht ganz wohl bei der Sache war, doch was sollte eigentlich dabei sein, wenn sie sich vergewisserte, ob es ihrer kleinen Schwester wirklich gut ging in ihrem neuen Zuhause?
Also fuhr Maybelle an einem Februarnachmittag nach der Schule nicht, wie immer, mit dem Bus in Richtung „Haus Aurora“, sondern nahm den Bus, der in die nächste größere Nachbarstadt fuhr und dabei den Vorort „Hopeful Graves“ passierte, in dem die Cameron’s lebten.
Sie stieg an der Haltestation aus und machte sich auf die Suche nach dem Haus mit der Nummer 43. Die Siedlung gefiel ihr, besonders den Namen fand sie schön. „Hopeful Graves“ – das klang wie Musik in den Ohren und Hoffnung war etwas, das den Menschen aufrechterhielt.
Das Haus der Cameron’s hatte sie schnell gefunden, es war eines der hübschesten Grundstücke in dieser Siedlung und gefiel ihr auf Anhieb ausnehmend gut.
Es hatte etwas Warmes, Freundliches an sich. Hoffentlich fand sich dieser Eindruck auch hinter der Tür wieder!
Als Maybelle zögernd näher trat, öffnete sich die Haustür und Ruby hüpfte hinaus, gefolgt von ihren Adoptiveltern, die das Wiedersehen der beiden Schwestern freudig lächelnd beobachteten.
Maybelles’ Herz polterte aufgeregt, als sie Ruby in die Arme schloss und ihren kleinen, schmalen Körper an sich drückte.
Ihre Schwester! Blutsbande waren also wirklich etwas Besonderes, sonst wäre Maybelle in diesem Moment nicht so unendlich glücklich gewesen, dass sie ihre Schwester wieder sah. Es gab noch jemanden auf dieser Welt, der von ihrem Fleisch und Blut war und dies verknüpfte ihrer beider Leben wohl bis zu ihrem Ende irgendwie miteinander.
Ruby schien ähnliche Gefühle zu haben, denn sie wollte ihre große Schwester gar nicht mehr aus den Augen lassen.
Nachdem sich Maybelle dem Ehepaar Cameron vorgestellt hatte und sie von den beiden sehr herzlich begrüßt worden war, zerrte Ruby sie an der Hand mit sich und rief fröhlich
„Komm! Ich zeig’ dir meine Schaukel!“
Lustig schwang sie sich auf der bunten Schaukel im Garten auf und ab und Maybelle sah ihr schmunzelnd dabei zu. Es gefiel ihr, ihre Schwester wieder so munter und gut gelaunt zu sehen wie früher – bevor das Unglück über ihre Familie gekommen war.
Alles, alles wollte ihr Ruby zeigen.
Ihr neues Bett, auf dem es sich so prima herumhüpfen ließ.
Ihr süßes Puppenhaus und die bunten Bauklötze.
Ihr Bücherregal mit all ihren Lieblingsbüchern.
Überhaupt ihr ganzes Zimmer, das mit freundlichen Vorhängen und lustigen Bildern an den Wänden sehr kuschelig und gemütlich aussah.
Maybelle dachte an ihren Schlafraum im „Haus Aurora“, in dem kein einziger Teppich lag, keine Poster an den Wänden klebten, an ihr Bett mit den kalten Eisenstäben am Kopf- und Fußende und die Bettwäsche, die aus einem harten, kratzigen Stoff bestand und nicht aus solch einem weichen, anschmiegsamen Material wie Ruby’s.
Sie freute sich für ihre Schwester und vergönnte ihr die Geborgenheit dieses freundlichen Hauses von ganzem Herzen – das sicherlich, doch gleichzeitig verspürte sie einen Anflug von Selbstmitleid, dass sie nicht in einer so anheimelnden Atmosphäre aufgewachsen war und auch jetzt nicht lebte.
Dabei war jedoch nicht der Anblick von Rubys hübschen Zimmer und all den Spielsachen schuld daran, dass Maybelle sich mit einem Mal noch elender fühlte als vorher.
Es war die Art, wie Mrs. und Mr. Cameron die Liebe und den Stolz, den sie für Ruby empfanden offen und ohne falsche Scham zeigten.
Sowohl Louisa als auch Daniel Cameron umarmten und herzten die Kleine und das Lächeln, das sie dabei auf dem Gesicht trugen, verriet, wie sehr ihnen Ruby ans Herz gewachsen war und wie sehr sie sie bereits als ihr Kind betrachteten.
Maybelle fühlte sich einsamer als je zuvor.
Ihre gute Stimmung, die sie vorher, als sie Ruby begrüßt hatte, empfand, war wie weggeblasen.
Nur der Gedanke an Nick hinderte sie daran, auf der Stelle in Tränen auszubrechen. Gut, sie hatte keine Eltern, die sie in den Arm nahmen, sie an sich drückten, sie trösteten, wenn sie traurig war, sich mit ihr freuten, wenn sie glücklich war – doch sie hatte Nick!
Sofort riss sie sich wieder zusammen und küsste Ruby lächelnd zum Abschied, denn die Kleine wurde trotz Maulens ins Bett geschickt.
Maybelle wollte sich nun auch von dem Ehepaar Cameron verabschieden, denn sie musste um spätestens 20:00 Uhr wieder im „Haus Aurora“ sein.
Louisa Cameron jedoch lächelte ihr zu, trug eine Schüssel mit duftendem Pudding herbei und bat sie, sich doch für ein kurzes Weilchen noch zu ihr und ihrem Mann zu setzen. Daniel würde sie danach mit dem Auto heimbringen und sie habe daher ja noch ein wenig Zeit.
Maybelle wollte eigentlich nichts mehr, als aus diesem Haus, in das sie nicht gehörte, aus dieser Familie, zu der sie nicht gehörte, zu verschwinden, doch die Cameron’s waren so nett zu ihr gewesen, dass sie nicht einfach so abhauen konnte.
Sie setzte sich wieder an den Küchentisch und ließ sich den Pudding schmecken – solche Köstlichkeiten gab es im „Haus Aurora“ ohnehin selten bis nie.
Die Süßspeise schmeckte wirklich lecker und Maybelle hielt ihren Kopf über der Schüssel gesenkt, nicht nur weil sie so vertieft darin war, sich den Bauch vollzuschlagen, sondern vor allem, weil Louisas aufmerksam-fragender Blick ihr nicht entgangen war.
„Es hat uns wirklich gefreut, dich kennenzulernen, Maybelle. Du bist ein ganz besonderes Mädchen. Möchtest du uns nicht öfter besuchen kommen?“
„Gerne“, murmelte Maybelle. Es war gelogen. Sie wusste, dass sie dieses Haus nie wieder betreten würde, auch wenn ihre Schwester darin lebte. Es war einfach zu viel, denn alles hier hielt ihr vor Augen was sie, Maybelle, nicht hatte.
„Wie gefällt es dir denn so im ‚Haus Aurora’? Habt ihr nette Betreuerinnen?“ plauderte Louisa munter drauflos.
Wieder log Maybelle.
„Oh ja, Rose und Faye sind wirklich sehr nett. Sie kümmern sich um uns fast wie richtige Mütter. Man kann mit jedem Problem zu ihnen kommen. Und das Haus ist einfach wunderhübsch. Jedes von uns Mädchen hat ein bescheiden, aber freundlich eingerichtetes, eigenes Zimmer.“
Sie wollte kein Mitleid haben, von niemandem. Nur deshalb hatte sie die Unwahrheit gesagt und sie fand, dass ihr das Märchen vom liebevoll geführten, gemütlichen Heim eigentlich ziemlich leicht über die Lippen gekommen war. Sie war erleichtert, dass sie es über sich gebracht hatte, denn so konnten die Camerons nicht auf die Idee kommen, Verdacht zu schöpfen, dass es ihr schlecht ging.
Allerdings hatte sie in ihrer Aufregung die Skepsis in Daniels Augen nicht gesehen.
Sie ahnte nicht, dass Rubys Adoptiveltern ihr kein Wort glaubten.
Und als sie aus dem Wagen ausstieg, mit dem Daniel sie nach Hause gebracht hatte, hörte sie seine nachdenklichen Worte nicht mehr, denn die Autotür war bereits hinter ihr zugefallen.
Er schaute ihr nach, wie sie mit aufrechtem Gang und ungebeugten Schultern durch die Dunkelheit auf das Jugendheim zuging.
„Armes, kleines Mädchen. Sie will stark und hart sein, niemanden an sich ranlassen, dabei ist das einzige, was sie braucht Liebe.“