Tatsächlich trafen Carry und ich eine halbe Stunde später in einer Seitenstraße der Pacific Avenue ein. Es war in der Zwischenzeit dunkel geworden, die Straßenlaternen tauchten die Innenstadt in ein fahles Licht.
Es war nicht gerade die feinste Gegend, es handelte sich um eine Mischgebiet mit größeren Mietshäusern und kleinen Geschäften im Erdgeschoss. Ariel befand sich in einer Eckgalerie, schon durch die große Fensterfront konnte ich ihn erspähen.
„Lass dich nicht von den Hormonen leiten.“ flüsterte Carry mir zu, obwohl die Seitenstraße menschenleer war. „Mach ihn nicht fertig, das hat er gar nicht verdient.“
„Seine Tante geht im Altersheim ein – und er kauft sich hier gerade gemütlich einen neuen Monet? Es sind doch nicht nur die Schwangerschaftshormone, wenn ich mich aufrege. Hast du die alte Frau nicht gesehen? Sie hat schon vollkommen mit ihrer Familie abgeschlossen!“
„Diese Familie ist nicht mit unserer zu vergleichen. Sie pflegen einen lockeren, beinah geschäftlichen Kontakt zueinander. Du kannst sie nicht ändern.“ beschwor mich Carry.
„Aber ich kann es versuchen.“ murmelte ich mehr zu mir selbst und ließ Carry stehen.
Auf seinem Gesicht war deutlich Freude zu erkennen. Ich schämte mich sogar, etwas Böses über ihn gedacht zu haben als ich seine vor Zuneigung glänzenden Augen sah.
„Da bist du ja endlich.“ lächelte er mich an. Er versuchte offensichtlich auch nicht zu verbergen, wie froh er über unser Treffen war.
„Endlich? Wir haben eine halbe Stunde gebraucht – eine absolute Rekordzeit.“ sagte ich eher kühl und nickte zu Carry hinüber, die gerade durch die Tür trat.
Er grüßte Carry kurz, dann wandte er sich wieder mir zu.
„Was beschert mir die Freude deines überraschenden Besuchs? Warum hast du angerufen? Du klangst…so…aufgewühlt…“ Abwartend sah er mich an.
„Kein Wunder, dass ich aufgewühlt geklungen habe. Ich habe Tante Petronella besucht!“ donnerte ich ihm vor den Latz.
Ariel wurde schlagartig blass, sein Kinn zuckte kurz, dann fing er sich wieder. „Ach so?“ fragte er mit verschränkten Armen.
„Von Astan habe ich erfahren, was ihr der alten Dame angetan habt. Ich bin zutiefst schockiert.“
„Von Astan. Soso…ich merke es.“ murmelte er und sah mich von oben herab an. „Was hast du denn über Petronella herausgefunden?“
„Ihr habt sie in dieses Heim abgeschoben – aus welchen Gründen auch immer. Dort ist sie einsam, sie hat keine Freunde und ihr redet schon über sie als wäre sie tot!“ rief ich.
Wie die meisten Kunden im Raum sah Carry zu uns herüber. Sie hatte die Stirn gerunzelt und schüttelte den Kopf. „Consuela, nein!“ formte sie mit den Lippen. Dann drehte sie sich wieder um und ging dazu über, so zu tun als würde sie mich nicht kennen.
„Da bist du ja bestens informiert.“ rief Ariel nun seinerseits ohne auf die Kundschaft zu achten. Was der Ladenbesitzer wohl zu dieser unangenehmen Ruhestörung sagen würde?
Ich schrak zurück. Ariel hatte mich noch niemals so angefahren. Aber mit ihm hatte ich mich auch noch niemals gestritten.
„Du bist also ins Heim gefahren und hast sie getroffen. Aber ansonsten weißt du nichts über sie?“ Eine Ader pochte an Ariels Schläfe.
„Reicht das etwa nicht?“
„Nein! Hältst du uns tatsächlich für so herzlos? Kannst du dir nicht vorstellen, dass es Gründe dafür gibt, weshalb wir sie in ein Heim gegeben haben?“
„Welche Gründe sollten das denn sein?“ Jetzt verschränkte ich meine Arme.
Er atmete tief ein. „Sie ist sehr kompliziert.“ sagte er leiser mit einen Seitenblick auf die uns umgebenden Kunden, die nun schon ganz offenkundig lauschten.
„Und das soll ein plausibler Grund sein?“ knurrte ich abwartend.
„Sie ist eine launenhafte und überspannte Frau. Verstehe mich nicht falsch – sie ist meine Tante und ich liebe sie. Aber irgendwann konnten wir sie nicht mehr daheim pflegen. Sie ist so herrschsüchtig und unzufrieden – das Pflegepersonal hält es einfach nicht lange genug bei ihr aus.“
Ich sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an.
„Ihr habt viel Geld, ihr könnt Euch tausend Krankenschwestern für Eure Tante leisten.“
Er seufzte. „Da magst du Recht haben. Aber als die Agentur uns keine Kräfte mehr zur Verfügung stellen konnte und wollte, da haben wir kapituliert. Wir haben aufgegeben – ich wollte einfach nicht länger gegen ihren Starrsinn ankämpfen. Ich gebe es zu: Es war die leichtere Lösung für mich, sie in ein Heim zu geben. Aber was hätten wir sonst tun sollen: Sie bei uns Zuhause pflegen?“
Ich ließ die Arme hängen. Tatsächlich fragte ich mich, was gegen diese Möglichkeit sprach. Allerdings sah er mich so widerstrebend an – für ihn stand diese Möglichkeit wohl nicht zur Debatte.
„In deiner Welt mag das vielleicht üblich sein.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber wir sind zu beschäftigt um uns den ganzen Tag um Tante Petronella kümmern zu können. Wie sollte ich die Zeit aufbringen, meine Tante zu pflegen, kannst du mir das sagen?“
„Arkan und ich hätten sie doch zu uns nehmen können. Unser Haus war groß genug…“
Ariel zuckte deutlich zusammen als ich den Namen seines Vaters erwähnte. Er lächelte halbherzig. „Ich glaube, das wäre keine gute Idee gewesen…“ seufzte er.
„Dass ihr Petronella in ein Heim geben musstet, ist noch halbwegs verständlich.“ murmelte ich. „Aber warum sprecht ihr über sie als wäre sie…“ Ich sah mich im Raum um, mein Blick streifte die vielen geschäftig dreinblickenden Kunden. „…als wäre sie tot?“ flüsterte ich zu Ariel.
„Du weißt wirklich nichts über sie, oder?“ fragte Ariel und biss sich grinsend auf die Lippen.
„Naja…Astan hat mir schon etwas erzählt.“ log ich, dass die Balken sich bogen.
„Petronella O’Flahatery ist eigentlich jedem ein Begriff. Gehst du nie ins Kino?“ entgegnete er.
„Eher selten.“ gab ich zu.
„Unsere Tante war ein Star. Als sie jung war, lag ihr Hollywood zu Füßen. Vermutlich werden dir die Broadway-Produktionen, in denen sie die Hauptrolle spielte, auch nicht viel sagen…“
„Nein.“ sagte ich überrascht. „…wohl kaum. Das habe ich aber tatsächlich nicht gewusst.“
„Du solltest vielleicht deine Quellen überprüfen.“ sagte er mit erhobenem Zeigefinger.
„Es war schwierig, an Informationen zu kommen. Um Tante Petronella scheinen sich Geheimnisse zu ranken – ihr habt mir nicht nur ihre Existenz verschwiegen, ihr erzählt auch jetzt erstaunlich wenig über sie.“
Er lachte. „Wir erzählen allen, dass sie tot ist, damit die Presse ihr nicht auf die Schliche kommt. Eine längst vergessene Diva im Altersheim reizt so machen Fotografen.“ erklärte er. „Dir haben wir es nie erzählt weil wir es nicht für nötig befunden haben. Tante Petronella war nicht mit Vater, sondern mit Mutter verwandt. Vater hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu Petronella, deshalb hat er sie vielleicht nie erwähnt. Hat er sie erwähnt?“ fragte er hastig.
„Nein.“ sagte ich abwesend. „Er hat sie nie erwähnt.“
„Das kann mit Eurer Tante so nicht weitergehen.“ platzte es plötzlich aus mir heraus.
„Was willst du tun?“
„Ich werde sie hin und wieder zu mir holen. So kann sie Zeit in ihrem Haus verbringen, sie kann bei ihrer Familie sein…“
Er runzelte die Stirn. „Wie sollte das funktionieren?“
„Ich lade euch zu meinem Weihnachtsessen ein. Dich, Astan und Tante Petronella. Oder bist du schon anderweitig verplant?“
„Nein…nein, das bin ich nicht…“
„Agatha wird nicht kommen.“ sagte ich mit scharfem Ton. „Ich hoffe, du kannst darüber hinwegsehen.“
Er grinste. „Kein Problem. Ich bin nicht auf sie angewiesen.“
„Dann bist du herzlich willkommen.“ zwinkerte ich ihm zu. Mit einer Geste deutete ich zur Tür, Carry sprang eilfertig hinüber und zog am Türknauf.
„Dann noch viel Spaß beim Einkaufen.“ sagte im schon im Gehen zu Ariel.
„Ähm…nein, also…“ Er schien verwirrt. „Consuela?“ rief er mir hinterher.
Ich drehte mich um. Er stand mitten im Raum, seine Wangen glühten rot. „Ich gratuliere dir übrigens.“
„Wie bitte?“ fragte ich irritiert.
Er zeigte auf meinen Bauch. Ich sah hinunter auf die schon sehr deutliche Schwellung. Als ich wieder in sein Gesicht sah, lächelte er freundlich. Er hatte seine Worte ohne Hintergedanken gewählt.
Auf der Straße ging Carry mit mir ins Gericht. „Was du da drin abgezogen hast, war wirklich nicht nötig.“
„Hätte ich diese Sache auf sich beruhen lassen sollen? Du hast Petronella doch gesehen. Hätte ich das übergehen sollen?“
„Nein, natürlich nicht. Aber du hättest ihn nicht so unbegründet anblaffen müssen…“
Ich lachte. „Carry…was ist denn mit dir los? Du verteidigst Ariel ganz schön lebhaft. Man könnte glatt denken, dass du…“
„Dass ich was?“ Die Augen meiner Schwester funkelten mich wütend an.
Ich kicherte. „Carry ist verknallt…Carry ist verknallt…“ sang ich leise.
„Halt die Klappe.“ zischte sie.
„Du kannst es ruhig zugeben.“ kicherte ich als wir die Straße hinunterliefen.
„Bilde dir bloß nichts ein.“ Gab sie zurück und knuffte mich in die Seite, woraufhin ich schallend lachte.
Viele Straßen von der Galerie entfernt spiele sich am selben Abend eine andere Szene ab. Agatha von der Houden nutzte den Pool im Kellergeschoss ihres Hauses um in Form zu bleiben. Abigail Perrette hingegen entspannte sich lieber bei ein paar Drinks.
„Und das hat Ariel dir erzählt?“ fragte sie nun mit einem bis zum Rand gefüllten Glas.
Agatha schwamm eisern ihre Runden im Pool. Abigail konnte nicht verstehen, weshalb sich ihre Freundin mit Sport fit halten musste: In ihrem Fall regelte der Schönheitschirurg das Gröbste.
„Ja.“ prustete Agatha, sie hatte Wasser in den Mund bekommen. „Sonst erzählt er mir niemals etwas. Heute hat er mal einen auf Familie gemacht.“
„Woran das wohl liegt?“ Abigail trank noch einen kräftigen Schluck. Das tat gut!
„Diese Frau muss ihn heute einmal wieder becirct haben. Eine Weihnachtsfeier – ach, wie niedlich! Und dass er mir dann auch noch unter die Nase reiben musste, dass ich nicht eingeladen bin!“
Agatha stieß sich am Beckenrand ab und schwamm einige wütende Züge, am anderen Beckenrand angekommen, ließ sie sich rückwärts im Wasser treiben.
"Und dann auch noch mit Tante Petronella." Agatha gluckste leise. "Na, wenn sich da mal nicht zwei verwandte Seelen gefunden haben." tönte sie hämisch.
„Mach dich nicht fertig, Süße.“ gurgelte Abigail, die noch einen großen Schluck im Mund hatte. „Es hat auch etwas Gutes: so können wir Weihnachten zusammen feiern! Ist das nicht wunderbar? Nur wir zwei?“
„Papperlapapp.“ Agatha begann wieder zu schwimmen. „Denkst du etwa, ich will Gast auf dieser hinterwäldlerischen Feier sein? Es geht um Ariels Worte. Weißt du, was er zu mir gesagt hat?“
„Nein.“ Abigail musste husten. Das Zeug war irgendwie auch ganz schön scharf.
„’Es ist noch nicht zu spät.’ hat er zu mir gesagt. Kannst du dir das vorstellen? Es ist noch nicht zu spät! Dass ich nicht lache!“
„Aber…aber…du wolltest doch diesen ganzen Schmu. Das Kind in die Familie aufnehmen, es im Sinne deines Vaters erziehen und dieses ganze Zeug…davon redest du doch jeden Tag!“
„Es geht darum, dass er mich belehrt hat.“ rief Agatha aus dem Wasser zu Abigail hoch. „Was warnt er mich, was gibt er mir Ratschläge?“ Agathas Fäuste trafen wütend auf die Wasseroberfläche, Abigail sprang zurück um nicht nass gespritzt zu werden.
„Entschuldigung. Entschuldige vielmals.“ Abigail rollte mit den Augen. Wie sollte Abigail ihre Freundin nur verstehen? Sie holte sich an der Bar ein neues Glas und als sie sicher war, dass Agatha sie nicht sehen konnte, äffte sie ihre Art nach.
„Alles zu seiner Zeit.“ hörte sie ihre Geliebte aus dem Pool blubbern. Abigail stand mit ihrem Drink am Beckenrand und beobachtete, wie Agatha beharrlich die Wassermassen zur Seite schob. Ja, Agatha war schon ganz schön ausdauernd.