Kapitel 88
Beschützerinstinkte
Der Abend mit Monika war für Tessa eine echte Erfrischung gewesen. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie das Gefühl, es sei zwischen ihr und ihrer Freundin fast wieder wie in alten Zeiten. Sie berichtete Monika von ihren Zweifeln nach dem Praktikum, und auch diese sprach ihr Mut zu – sie solle sich durch diese eine Erfahrung nicht entmutigen lassen. Außerdem, so hatte Monika ihr gesagt, lege sie sich durch ihr Studium ja nicht zwingend auf diesen einen Beruf fest. Am folgenden Morgen fühlte Tessa sich erleichterter und machte sich freudig auf den Weg zu Jess. Sie traf ihn im Garten der Villa, wo er sie zur Begrüßung küsste und dann lächelnd ansah.
„Du scheinst heute guter Laune zu sein“, bemerkte er. „Ist etwas passiert?“
„Ich hatte gestern einen schönen Abend mit Moni“, erklärte diese und Jess lächelte verständnisvoll.
„Das ist gut. Habt ihr euch wieder ein bisschen versöhnt?“
Die beiden nahmen auf einer der Bänke im hinteren Teil des Gartens Platz. Es war wieder einmal recht still, nur ein oder zwei Bewohner der Villa verrichteten hier und da ihren Gartendienst und gossen die Blumen, ein paar wenige genossen auch den warmen Herbsttag und schwammen einige Runden im Pool.
Tessa nickte und erzählte Jess in groben Zügen, was am Vortag vorgefallen war.
„Das ist schön“, erklärte dieser, als sie geendet hatte. „Es wurde auch Zeit, dass ihr beiden euch aussprecht. Und ich habe auch gute Neuigkeiten für dich.“
Er lächelte.
„Was denn?“, Tessa sah ihn neugierig an.
„Mein Entlassungstermin steht nun fest“, erwiderte er. „In zwei Wochen ist es soweit.“
Tessa riss die Augen auf. „Jess! Das ist ja großartig! So bald schon!“
Jess nickte. „Ja, wie unwirklich, nicht wahr? Wir werden uns nur noch ein einziges Wochenende hier treffen, dann… gehört das alles hier wohl der Vergangenheit an.“
Er ließ seinen Blick halb wehmütig durch den Garten schweifen.
Tessa griff nach seiner Hand. „Hast du immer noch solche Angst?“, fragte sie leise.
Jess schüttelte zu ihrer Überraschung den Kopf. „Nein, nicht mehr. Ich habe diese Woche lange und oft mit meinen Therapeuten gesprochen, und die Angst ist nicht mehr so groß. Natürlich wird es nicht einfach werden, aber ich kann es schaffen, wenn ich will. Und ich hab ja auch noch dich.“
Er sah sie liebevoll an. Tessa lächelte.
„Ich bin mir nun auch klarer darüber, wie es danach weitergehen soll“, fuhr Jess fort. „Ich habe mich erkundigt, es gibt gute Abendkurse, ich könnte da sogar mein Abitur nachmachen, falls ich es will. Aber erstmal reicht mit der Realschulabschluss. Mein Therapeut sagt aber, ich soll erstmal ein-zwei Monate warten, damit nicht alles zu viel wird. Einen Job werde ich auch schon irgendwie finden… ich muss eben etwas Geduld haben. Aber es gehört wohl dazu, auch einmal Hilfe anzunehmen. Anders ist es nicht zu schaffen.“ Er sagte dies nicht ohne einen kleinen Seufzer.
Tessa griff nach seiner Hand und drückte sie stolz.
„Das ist toll, Jess. Genauso solltest du es sehen. Vielleicht wird ja alles einfacher gehen als wir beiden denken. Und wenn nicht, schaffen wir das auch. Und du hast ja sicher auch noch therapeutische Hilfe, wenn du nicht mehr hier bist, oder?“
Jess nickte. „Natürlich, wir kümmern uns in den zwei Wochen jetzt darum, dass ich einen ambulanten Platz in einer Therapie bekomme.“
„Das ist gut“, erwiderte Tessa. „Ganz ohne Hilfe wäre es sicher nicht machbar.“
„Nein, das glaube ich auch nicht“, stimmte Jess ihr zu und sah sie an. „Hast du den Angst?“
„Ich?“, sah Tessa ihn erstaunt an. „Wieso sollte ich Angst haben? Ich freue mich einfach wahnsinnig.“
„Aber es wird auch für dich nicht ganz einfach werden. Wir werden dicht aufeinander leben. Ich habe mich manchmal gefragt, ob das so gut ist. Das hatten wir noch nie. Wir haben uns im vergangenen halben Jahr zwar sehr regelmäßig, aber doch nur ein- oder zweimal in der Woche gesehen. Und vorher fast ein Jahr lang gar nicht…“
„Wir schaffen das schon“, wischte Tessa seine Bedenken weg. Als sie ihn skeptisch drein blicken sah, erwiderte sie hilflos: „Hör mal, Jess, ich bin eben einfach optimistisch. Was soll ich denn sonst sagen? Wir können uns im Moment nicht anders darauf vorbereiten… wir werden einfach schauen müssen, ob es klappt, wie es klappt… und dann reagieren…“
Sie sah ihn unsicher an. „Oder denkst du das nicht?“
Jess zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Ich hoffe, du bist dir klar darüber, dass das alles nicht einfach werden wird…“
„Hör mal, Jess, ich bin ja nicht blöd“, sagte Tessa leicht angesäuert. „Ich mache mir natürlich auch meine Gedanken. Und ja, ich bin mir absolut klar darüber, dass es nicht einfach werden wird. Aber es war nie einfach mit dir. Mit uns, meine ich…“
Jess sah sie ernst an. „Du hast recht. Du hast sehr viel durch gemacht in all der Zeit.“
Tessa winkte ab, doch Jess nahm ihre Hände und sagte ernst: „Tu das nicht so ab. Auch dein Leid ist wichtig. Wieso willst du das alles immer vor mir verstecken?“
Tessa sah ihn verunsichert an. „Findest du, dass ich das tu?“
Jess nickte. „Allemal. Du redest so selten über deine Gefühle.“ Er lachte leise. „Dabei bist du doch eine Frau!“
Tessa lächelte ebenfalls.
„Naja, du hast vielleicht recht…“, sagte sie und dachte daran, dass sie sich ihm vor einer Woche auch nicht anvertraut hatte. „Ich hatte gerade in den letzten Wochen einige Sorgen.“
Jess wurde ernst. „Sorgen? Was für Sorgen? Wieso hast du nichts davon gesagt?“
Tessa zuckte hilflos mit den Schultern. „Du hattest selbst so viel um die Ohren… ich wollte dich nicht noch zusätzlich belasten.“
Jess seufzte, ließ ihre Hände los und fuhr sich durchs Haar. „Genau das meine ich, Tessa!“, sagte er dann und sah sie an. „Das geht so nicht! Verstehst du, du kannst mich nicht immer beschützen wollen. Das funktioniert nicht.“
Tessa seufzte und wand sich auf der Bank hin und her.
„Jess, das liegt nicht unbedingt in meinem Sinne. Ich meine… ich mach das nicht bewusst.“
„Aber du tust es“, erwiderte er ernst. „Du musst endlich lernen, das ein wenig zurück zu schrauben. Zum einen bin ich ein Mann, und der hat nun einmal Beschützerinstinkte. Es gefällt mir nicht, dass du mich immer ein wenig bemuttern möchtest.“
„Aber Jess… du warst immer derjenige von uns beiden, der mehr Hilfe brauchte“, sagte sie verteidigend.
„Ich weiß nicht“, wandte Jess ein. „Das ist Ansichtssache. Du hast auch sehr, sehr viel mitgemacht. Gut, ich hätte dir in vielen Situationen nicht helfen können, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt war. Aber das ist es, was sich nun ändern soll und kann. Ich bin für dich da, Tessa. Begreif das endlich. Ich bin kein rohes Ei, das man schützen und verhätscheln muss.“
Tessa seufzte. „Ich weiß, ich weiß es ja…“
„Aber du hast es noch nicht begriffen“, erwiderte Jess sanfter. „Woher kommt das nur, dass du dich immer hinten anstellst, mh?“
Tessa zuckte mit den Schultern. „Irgendwie bin ich es nicht gewöhnt, dass jemand für mich da ist“, sagte sie dann nach einer Weile schwerfällig. Sie sah Jess an, der etwas überrascht wirkte, sie aber dennoch aufmerksam betrachtete.
„Nun, das wirkt wohl etwas seltsam für dich“, fuhr sie fort. „Bin ich doch der Inbegriff eines Mädchens, das ein behütetes Leben hatte, mh?“ Ihre Stimme klang gegen ihren Willen etwas bitter. „In vielerlei Hinsicht mag das so sein. Ich hatte eigentlich immer alles, was ich brauchte. Kleider, Spielsachen, Essen, ein warmes Bett… mir hat es nie so wirklich an etwas gefehlt.“
„Aber?“, fragte Jess vorsichtig. „Nahrung ist nicht alles, was ein Mensch braucht…“
„Tja, das ist es wohl“, erwiderte Tessa. „Irgendwie… weißt du, Jess, es war nie jemand da. Außer Trudy vielleicht. Ich meine…. meine Eltern waren fast immer unterwegs und hatten nie Zeit und Nerven, sich mit mir zu beschäftigen. Mein Vater hat registriert, ob ich gute oder schlechte Noten hatte… ich hab dann immer recht fleissig gelernt, weil ich wusste, dass ich so seine Aufmerksamkeit bekomme. Aber irgendwann war das auch selbstverständlich. Ich meine…“, sie seufzte ,“ es ist nicht so, dass sie mich völlig vernachlässigt haben. Aber irgendwie… irgendwie hätte ich mir mehr gewünscht.“
Sie schwieg einen Moment und die Erinnerungen an früher stiegen in ihr auf.
„Wenn sich jemand um mich kümmerte, dann Tru“, sagte sie dann noch einmal. „Ich erinnere mich an manchen Sonntag, als mein Vater Zeitung las und seine Berichte studierte, meine Mutter vertiefte sich in ihrem Kosmetikbüchern und Tru setzte sich zu mir und las mir vor. Das waren seltene Glücksstunden, denn sie war ja nicht immer bei uns…“
„Oder wie oft kam ich von der Schule nach Hause und musste alleine essen. Tru war zwar meistens da, aber ich hätte mir doch gewünscht, mit meinen Eltern zu essen. Gerade als ich ganz klein war, ich hätte gerne so wie die anderen in der Schule meinen Eltern erzählt, was passiert war in der Schule. Elternabende haben die beiden nie wahr genommen, und auch Elternsprechtage waren für sie nur interessant, wenn ich in einem Fach eben doch einmal nicht so gut war… was fast nie der Fall gewesen ist. Oder Schulausflüge. Ich habe die Kinder immer so beneidet, deren Eltern da freiwillig mitgekommen sind!“
Tessa seufzte und starrte vor sich hin, während sie sich an jene Zeiten erinnerte.
Sie zuckte mit den Schultern und sah Jess schließlich wieder an.
„Das alles muss für dich ziemlich bescheuert wirken“, sagte sie dann. „Du hattest ja gar keine Eltern mehr und hättest dir sicher welche gewünscht, die nur ab und an da waren…“
Doch Jess unterbrach sie. „He, Tessa! Du machst es schon wieder“, sagte er ernst und drückte ihre Hände. „Du wertest unsere Schicksale und Leben gegeneinander, aber so funktioniert das nicht.“ Er sah sie zärtlich an. „Ich finde, was du da erzählst, hört sich durchaus traurig und einsam an. Und es tut mir weh, mir vorzustellen, wie schwierig es für dich gewesen sein muss.“
Tessa sah ihn verwirrt an. „Aber Jess… was du durchgemacht hast, war doch viel schlimmer…
„Tessa!“, rief er. „Nun hör damit auf! Das sind deine Wertmaßstäbe, die sind nicht universal gültig. Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal. Wer kann mir sagen, dass ich unglücklicher war als du? Und wieso sollten wir das überhaupt werten? Fakt ist, du warst unglücklich. Du warst einsam, und deine Eltern waren oft nicht da, wenn du sie gebraucht hättest. Das ist traurig, das prägt. Und das solltest du nicht so wegreden und verdrängen.“
Tessa starrte vor sich hin.
„Du klingst schon wie ein Psychologe“, murmelte sie dann.
Jess lächelte. „Nun ja, ich hatte einiges mit dieser Gattung zu tun in den letzten Monaten. Aber nun einmal ernsthaft. Ich denke wirklich, du solltest deine eigenen Gefühle und Probleme nicht so runterwerten, nur weil sie auf der offensichtlichen und gesellschaftlichen Scala wertloser und unbedeutender wirken als meine oder die eines anderen. Ich denke, so funktioniert das nicht. Selbst ich habe vermutlich noch ein tolles Leben, wenn ich mich mit einem Kind aus der dritten Welt vergleichen würde.“
„Was ist das denn für ein unsinniger Vergleich“, schnaubte Tessa.
„Das ist ein Vergleich, den man ziehen kann, wenn man sein eigenes Leid herunter werten möchte“, erklärte Jess. „Ich glaube nämlich, dass es immer jemanden gibt, dem es schlechter geht als einem selbst. Man sollte danach nicht werten oder suchen. Dir geht es in deiner ganz eigenen Situation schlecht, und damit sollte einfach alles gesagt sein. Und alles gleich gelten. Wir leben nun einmal unser eigenes Leben, nicht das eines anderen.“
Tessa sah ihn nachdenklich an.
„Das wirkt irgendwie befremdlich auf mich“, sagte sie dann. „Es ist doch so offensichtlich, dass es mir im Verhältnis zu anderen gut geht…“
„Lass diese blöde Verhältnismäßigkeit aus dem Spiel“, erwiderte Jess. Er sah sie ernst an.
„Hör mal, Tessa. Es mag sein, dass früher niemand danach gefragt hat, wie es dir geht. Was dich bewegt. Und dass du nach außen hin ein tolles Leben hattest. Aber ich sehe es anders. Du hattest schwere Zeiten, immer wieder. Und für mich zählt es, was du denkst und fühlst. Und ich kann dich auch beschützen, wenn es nötig ist. Ich kann dich stützen, so wie du mich stützen kannst. Wir sind gleichberechtigt, in jeder Beziehung. Und das ist wichtig für uns, sehr wichtig. Du musst versuchen, dir das begreiflich zu machen. Denkst du, das geht?“
Tessa sah ihn lange an.
„Es wirkt noch seltsam, sich das vorzustellen“, gab sie dann zu. „Aber du hast natürlich recht, es ist wichtig, dass wir in allen Punkten gleich berechtigt sind. Vor allem für dich.“
„Aber genau das ist der Punkt“, rief Jess aus. „Es ist nicht nur für mich wichtig! Ich will nicht, dass du es dir begreiflich machst, weil es für MICH wichtig ist! Es ist für dich genauso wichtig! Verstehst du das nicht? Du brauchst auch Wärme und Liebe und Nähe und Geborgenheit. Oder etwa nicht?“
Tessa schluckte. „Ja… das brauch ich“, stieß sie dann leise hervor. Jess drückte ihre Hand.
„Na siehst du“, erwiderte er dann sanft. „Und ich kann dir all das geben. So wie du mir. Es ist nicht nur für mich wichtig, weißt du.“
Tessa begriff allmählich, was er meinte.
Die beiden saßen noch eine Weile zusammen, dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Nachdenklich verließ Tessa den Park.
Ein warmes Gefühl durchströmte sie, als sie den Gedanken zuließ, sich bei Jess fallen lassen zu können. Doch im selben Moment erschien ihr das Gefühl absolut abstrus. Jess war doch noch so labil! Er wusste so wenig von dem, was da draußen auf ihn zukommen würde.
Sie war es, die anfangs stark und optimistisch für ihn sein musste. Und doch regte sich tief in ihr das Bewusstsein, dass sie ihre Beschützerinstinkte allmählich zurück schrauben musste. Und die Vorstellung, selbst beschützt zu werden, erfüllte sie den ganzen Heimweg über mit verwirrender Verzückung. Auch wenn sie diesem Gedanken noch misstraute.
Fortsetzung folgt.
Beschützerinstinkte
Der Abend mit Monika war für Tessa eine echte Erfrischung gewesen. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie das Gefühl, es sei zwischen ihr und ihrer Freundin fast wieder wie in alten Zeiten. Sie berichtete Monika von ihren Zweifeln nach dem Praktikum, und auch diese sprach ihr Mut zu – sie solle sich durch diese eine Erfahrung nicht entmutigen lassen. Außerdem, so hatte Monika ihr gesagt, lege sie sich durch ihr Studium ja nicht zwingend auf diesen einen Beruf fest. Am folgenden Morgen fühlte Tessa sich erleichterter und machte sich freudig auf den Weg zu Jess. Sie traf ihn im Garten der Villa, wo er sie zur Begrüßung küsste und dann lächelnd ansah.
„Du scheinst heute guter Laune zu sein“, bemerkte er. „Ist etwas passiert?“

„Ich hatte gestern einen schönen Abend mit Moni“, erklärte diese und Jess lächelte verständnisvoll.
„Das ist gut. Habt ihr euch wieder ein bisschen versöhnt?“
Die beiden nahmen auf einer der Bänke im hinteren Teil des Gartens Platz. Es war wieder einmal recht still, nur ein oder zwei Bewohner der Villa verrichteten hier und da ihren Gartendienst und gossen die Blumen, ein paar wenige genossen auch den warmen Herbsttag und schwammen einige Runden im Pool.
Tessa nickte und erzählte Jess in groben Zügen, was am Vortag vorgefallen war.
„Das ist schön“, erklärte dieser, als sie geendet hatte. „Es wurde auch Zeit, dass ihr beiden euch aussprecht. Und ich habe auch gute Neuigkeiten für dich.“
Er lächelte.

„Was denn?“, Tessa sah ihn neugierig an.
„Mein Entlassungstermin steht nun fest“, erwiderte er. „In zwei Wochen ist es soweit.“
Tessa riss die Augen auf. „Jess! Das ist ja großartig! So bald schon!“
Jess nickte. „Ja, wie unwirklich, nicht wahr? Wir werden uns nur noch ein einziges Wochenende hier treffen, dann… gehört das alles hier wohl der Vergangenheit an.“
Er ließ seinen Blick halb wehmütig durch den Garten schweifen.
Tessa griff nach seiner Hand. „Hast du immer noch solche Angst?“, fragte sie leise.
Jess schüttelte zu ihrer Überraschung den Kopf. „Nein, nicht mehr. Ich habe diese Woche lange und oft mit meinen Therapeuten gesprochen, und die Angst ist nicht mehr so groß. Natürlich wird es nicht einfach werden, aber ich kann es schaffen, wenn ich will. Und ich hab ja auch noch dich.“
Er sah sie liebevoll an. Tessa lächelte.

„Ich bin mir nun auch klarer darüber, wie es danach weitergehen soll“, fuhr Jess fort. „Ich habe mich erkundigt, es gibt gute Abendkurse, ich könnte da sogar mein Abitur nachmachen, falls ich es will. Aber erstmal reicht mit der Realschulabschluss. Mein Therapeut sagt aber, ich soll erstmal ein-zwei Monate warten, damit nicht alles zu viel wird. Einen Job werde ich auch schon irgendwie finden… ich muss eben etwas Geduld haben. Aber es gehört wohl dazu, auch einmal Hilfe anzunehmen. Anders ist es nicht zu schaffen.“ Er sagte dies nicht ohne einen kleinen Seufzer.
Tessa griff nach seiner Hand und drückte sie stolz.
„Das ist toll, Jess. Genauso solltest du es sehen. Vielleicht wird ja alles einfacher gehen als wir beiden denken. Und wenn nicht, schaffen wir das auch. Und du hast ja sicher auch noch therapeutische Hilfe, wenn du nicht mehr hier bist, oder?“
Jess nickte. „Natürlich, wir kümmern uns in den zwei Wochen jetzt darum, dass ich einen ambulanten Platz in einer Therapie bekomme.“

„Das ist gut“, erwiderte Tessa. „Ganz ohne Hilfe wäre es sicher nicht machbar.“
„Nein, das glaube ich auch nicht“, stimmte Jess ihr zu und sah sie an. „Hast du den Angst?“
„Ich?“, sah Tessa ihn erstaunt an. „Wieso sollte ich Angst haben? Ich freue mich einfach wahnsinnig.“
„Aber es wird auch für dich nicht ganz einfach werden. Wir werden dicht aufeinander leben. Ich habe mich manchmal gefragt, ob das so gut ist. Das hatten wir noch nie. Wir haben uns im vergangenen halben Jahr zwar sehr regelmäßig, aber doch nur ein- oder zweimal in der Woche gesehen. Und vorher fast ein Jahr lang gar nicht…“
„Wir schaffen das schon“, wischte Tessa seine Bedenken weg. Als sie ihn skeptisch drein blicken sah, erwiderte sie hilflos: „Hör mal, Jess, ich bin eben einfach optimistisch. Was soll ich denn sonst sagen? Wir können uns im Moment nicht anders darauf vorbereiten… wir werden einfach schauen müssen, ob es klappt, wie es klappt… und dann reagieren…“

Sie sah ihn unsicher an. „Oder denkst du das nicht?“
Jess zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Ich hoffe, du bist dir klar darüber, dass das alles nicht einfach werden wird…“
„Hör mal, Jess, ich bin ja nicht blöd“, sagte Tessa leicht angesäuert. „Ich mache mir natürlich auch meine Gedanken. Und ja, ich bin mir absolut klar darüber, dass es nicht einfach werden wird. Aber es war nie einfach mit dir. Mit uns, meine ich…“
Jess sah sie ernst an. „Du hast recht. Du hast sehr viel durch gemacht in all der Zeit.“
Tessa winkte ab, doch Jess nahm ihre Hände und sagte ernst: „Tu das nicht so ab. Auch dein Leid ist wichtig. Wieso willst du das alles immer vor mir verstecken?“

Tessa sah ihn verunsichert an. „Findest du, dass ich das tu?“
Jess nickte. „Allemal. Du redest so selten über deine Gefühle.“ Er lachte leise. „Dabei bist du doch eine Frau!“
Tessa lächelte ebenfalls.
„Naja, du hast vielleicht recht…“, sagte sie und dachte daran, dass sie sich ihm vor einer Woche auch nicht anvertraut hatte. „Ich hatte gerade in den letzten Wochen einige Sorgen.“
Jess wurde ernst. „Sorgen? Was für Sorgen? Wieso hast du nichts davon gesagt?“
Tessa zuckte hilflos mit den Schultern. „Du hattest selbst so viel um die Ohren… ich wollte dich nicht noch zusätzlich belasten.“
Jess seufzte, ließ ihre Hände los und fuhr sich durchs Haar. „Genau das meine ich, Tessa!“, sagte er dann und sah sie an. „Das geht so nicht! Verstehst du, du kannst mich nicht immer beschützen wollen. Das funktioniert nicht.“

Tessa seufzte und wand sich auf der Bank hin und her.
„Jess, das liegt nicht unbedingt in meinem Sinne. Ich meine… ich mach das nicht bewusst.“
„Aber du tust es“, erwiderte er ernst. „Du musst endlich lernen, das ein wenig zurück zu schrauben. Zum einen bin ich ein Mann, und der hat nun einmal Beschützerinstinkte. Es gefällt mir nicht, dass du mich immer ein wenig bemuttern möchtest.“
„Aber Jess… du warst immer derjenige von uns beiden, der mehr Hilfe brauchte“, sagte sie verteidigend.
„Ich weiß nicht“, wandte Jess ein. „Das ist Ansichtssache. Du hast auch sehr, sehr viel mitgemacht. Gut, ich hätte dir in vielen Situationen nicht helfen können, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt war. Aber das ist es, was sich nun ändern soll und kann. Ich bin für dich da, Tessa. Begreif das endlich. Ich bin kein rohes Ei, das man schützen und verhätscheln muss.“

Tessa seufzte. „Ich weiß, ich weiß es ja…“
„Aber du hast es noch nicht begriffen“, erwiderte Jess sanfter. „Woher kommt das nur, dass du dich immer hinten anstellst, mh?“
Tessa zuckte mit den Schultern. „Irgendwie bin ich es nicht gewöhnt, dass jemand für mich da ist“, sagte sie dann nach einer Weile schwerfällig. Sie sah Jess an, der etwas überrascht wirkte, sie aber dennoch aufmerksam betrachtete.
„Nun, das wirkt wohl etwas seltsam für dich“, fuhr sie fort. „Bin ich doch der Inbegriff eines Mädchens, das ein behütetes Leben hatte, mh?“ Ihre Stimme klang gegen ihren Willen etwas bitter. „In vielerlei Hinsicht mag das so sein. Ich hatte eigentlich immer alles, was ich brauchte. Kleider, Spielsachen, Essen, ein warmes Bett… mir hat es nie so wirklich an etwas gefehlt.“

„Aber?“, fragte Jess vorsichtig. „Nahrung ist nicht alles, was ein Mensch braucht…“
„Tja, das ist es wohl“, erwiderte Tessa. „Irgendwie… weißt du, Jess, es war nie jemand da. Außer Trudy vielleicht. Ich meine…. meine Eltern waren fast immer unterwegs und hatten nie Zeit und Nerven, sich mit mir zu beschäftigen. Mein Vater hat registriert, ob ich gute oder schlechte Noten hatte… ich hab dann immer recht fleissig gelernt, weil ich wusste, dass ich so seine Aufmerksamkeit bekomme. Aber irgendwann war das auch selbstverständlich. Ich meine…“, sie seufzte ,“ es ist nicht so, dass sie mich völlig vernachlässigt haben. Aber irgendwie… irgendwie hätte ich mir mehr gewünscht.“
Sie schwieg einen Moment und die Erinnerungen an früher stiegen in ihr auf.
„Wenn sich jemand um mich kümmerte, dann Tru“, sagte sie dann noch einmal. „Ich erinnere mich an manchen Sonntag, als mein Vater Zeitung las und seine Berichte studierte, meine Mutter vertiefte sich in ihrem Kosmetikbüchern und Tru setzte sich zu mir und las mir vor. Das waren seltene Glücksstunden, denn sie war ja nicht immer bei uns…“

„Oder wie oft kam ich von der Schule nach Hause und musste alleine essen. Tru war zwar meistens da, aber ich hätte mir doch gewünscht, mit meinen Eltern zu essen. Gerade als ich ganz klein war, ich hätte gerne so wie die anderen in der Schule meinen Eltern erzählt, was passiert war in der Schule. Elternabende haben die beiden nie wahr genommen, und auch Elternsprechtage waren für sie nur interessant, wenn ich in einem Fach eben doch einmal nicht so gut war… was fast nie der Fall gewesen ist. Oder Schulausflüge. Ich habe die Kinder immer so beneidet, deren Eltern da freiwillig mitgekommen sind!“
Tessa seufzte und starrte vor sich hin, während sie sich an jene Zeiten erinnerte.

Sie zuckte mit den Schultern und sah Jess schließlich wieder an.
„Das alles muss für dich ziemlich bescheuert wirken“, sagte sie dann. „Du hattest ja gar keine Eltern mehr und hättest dir sicher welche gewünscht, die nur ab und an da waren…“
Doch Jess unterbrach sie. „He, Tessa! Du machst es schon wieder“, sagte er ernst und drückte ihre Hände. „Du wertest unsere Schicksale und Leben gegeneinander, aber so funktioniert das nicht.“ Er sah sie zärtlich an. „Ich finde, was du da erzählst, hört sich durchaus traurig und einsam an. Und es tut mir weh, mir vorzustellen, wie schwierig es für dich gewesen sein muss.“

Tessa sah ihn verwirrt an. „Aber Jess… was du durchgemacht hast, war doch viel schlimmer…
„Tessa!“, rief er. „Nun hör damit auf! Das sind deine Wertmaßstäbe, die sind nicht universal gültig. Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal. Wer kann mir sagen, dass ich unglücklicher war als du? Und wieso sollten wir das überhaupt werten? Fakt ist, du warst unglücklich. Du warst einsam, und deine Eltern waren oft nicht da, wenn du sie gebraucht hättest. Das ist traurig, das prägt. Und das solltest du nicht so wegreden und verdrängen.“
Tessa starrte vor sich hin.
„Du klingst schon wie ein Psychologe“, murmelte sie dann.

Jess lächelte. „Nun ja, ich hatte einiges mit dieser Gattung zu tun in den letzten Monaten. Aber nun einmal ernsthaft. Ich denke wirklich, du solltest deine eigenen Gefühle und Probleme nicht so runterwerten, nur weil sie auf der offensichtlichen und gesellschaftlichen Scala wertloser und unbedeutender wirken als meine oder die eines anderen. Ich denke, so funktioniert das nicht. Selbst ich habe vermutlich noch ein tolles Leben, wenn ich mich mit einem Kind aus der dritten Welt vergleichen würde.“
„Was ist das denn für ein unsinniger Vergleich“, schnaubte Tessa.
„Das ist ein Vergleich, den man ziehen kann, wenn man sein eigenes Leid herunter werten möchte“, erklärte Jess. „Ich glaube nämlich, dass es immer jemanden gibt, dem es schlechter geht als einem selbst. Man sollte danach nicht werten oder suchen. Dir geht es in deiner ganz eigenen Situation schlecht, und damit sollte einfach alles gesagt sein. Und alles gleich gelten. Wir leben nun einmal unser eigenes Leben, nicht das eines anderen.“

Tessa sah ihn nachdenklich an.
„Das wirkt irgendwie befremdlich auf mich“, sagte sie dann. „Es ist doch so offensichtlich, dass es mir im Verhältnis zu anderen gut geht…“
„Lass diese blöde Verhältnismäßigkeit aus dem Spiel“, erwiderte Jess. Er sah sie ernst an.
„Hör mal, Tessa. Es mag sein, dass früher niemand danach gefragt hat, wie es dir geht. Was dich bewegt. Und dass du nach außen hin ein tolles Leben hattest. Aber ich sehe es anders. Du hattest schwere Zeiten, immer wieder. Und für mich zählt es, was du denkst und fühlst. Und ich kann dich auch beschützen, wenn es nötig ist. Ich kann dich stützen, so wie du mich stützen kannst. Wir sind gleichberechtigt, in jeder Beziehung. Und das ist wichtig für uns, sehr wichtig. Du musst versuchen, dir das begreiflich zu machen. Denkst du, das geht?“
Tessa sah ihn lange an.
„Es wirkt noch seltsam, sich das vorzustellen“, gab sie dann zu. „Aber du hast natürlich recht, es ist wichtig, dass wir in allen Punkten gleich berechtigt sind. Vor allem für dich.“

„Aber genau das ist der Punkt“, rief Jess aus. „Es ist nicht nur für mich wichtig! Ich will nicht, dass du es dir begreiflich machst, weil es für MICH wichtig ist! Es ist für dich genauso wichtig! Verstehst du das nicht? Du brauchst auch Wärme und Liebe und Nähe und Geborgenheit. Oder etwa nicht?“
Tessa schluckte. „Ja… das brauch ich“, stieß sie dann leise hervor. Jess drückte ihre Hand.
„Na siehst du“, erwiderte er dann sanft. „Und ich kann dir all das geben. So wie du mir. Es ist nicht nur für mich wichtig, weißt du.“
Tessa begriff allmählich, was er meinte.
Die beiden saßen noch eine Weile zusammen, dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Nachdenklich verließ Tessa den Park.

Ein warmes Gefühl durchströmte sie, als sie den Gedanken zuließ, sich bei Jess fallen lassen zu können. Doch im selben Moment erschien ihr das Gefühl absolut abstrus. Jess war doch noch so labil! Er wusste so wenig von dem, was da draußen auf ihn zukommen würde.
Sie war es, die anfangs stark und optimistisch für ihn sein musste. Und doch regte sich tief in ihr das Bewusstsein, dass sie ihre Beschützerinstinkte allmählich zurück schrauben musste. Und die Vorstellung, selbst beschützt zu werden, erfüllte sie den ganzen Heimweg über mit verwirrender Verzückung. Auch wenn sie diesem Gedanken noch misstraute.
Fortsetzung folgt.
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