Kapitel 18
‚Er hat mich gar nicht angelogen’, schwirrte es in meinem Kopf umher, als ich in einem Taxi auf dem Weg nach Hause war. ‚Sein Name ist in einer gewissen Weise doch ‚Black’. Doch welche Eltern kamen auf die Idee, ihr Kind so zu nennen? Warum bloß?’
Ich beschloss, Black unbedingt nach seinem besonderen Namen auszufragen, sobald er wieder fit war. Wenn. Wenn er überhaupt wieder aufwachte, jemals. Ich fühlte, wie sich schon wieder ein Kloß in meinem Hals bildete. Was war, wenn er sterben würde? Hätte ich ihn doch bloß nicht allein gelassen im Krankenhaus. Mich plagte das schlechte Gewissen und ich überlegte kurz, den Taxifahrer wieder umkehren zu lassen, doch dann kamen wir auch schon bei der WG an. Ich sollte mich tatsächlich einige Stunden ausruhen. Aber nicht lange, das schwor ich mir. Sobald es ging, würde ich zurück ins Krankenhaus fahren und bei ihm bleiben.
Als ich grade die Tir zur Küche öffnete, kam auch schon Mara auf mich zu. Paralysiert bleib ich in der Tür stehen.
„Lia!”, hörte ich Mara rufen. „Wo warst du bloß? Ich hab’ mir solche Sorgen um dich gemacht und… oh Gott du siehst ja schrecklich aus, was ist passiert?”
Als ich Mara und ihren besorgten Gesichtsausdruck sah, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich fiel ihr in die Arme und schluchzte.
„Ich… oh Gott. Wir waren… er.…” Ich schniefte.
„Was ist denn passiert?”, fragte das blonde Mädchen, die mittlerweile erkannte, dass wirkliche etwas vorgefallen war und ich nicht nur ein paar durchfeierte Nächte hinter mir hatte.
„Setz dich erstmal”, schlug sie vor und zog mich auf einen der Stühle, wo ich in mich zusammensackte.
Ich gab mir keine Mühe mehr und ließ meinen Tränen freien Lauf.
„Er stirbt”, brachte ich heraus. „Und es ist meine Schuld. Wäre ich nicht gewesen... oh Gott Mara, es ist…”
„Lia”, unterbrach sie mich. „Ganz ruhig erstmal. Wer stirbt? Erzähl alles von vorne.”
Sie kramte eine Packung Taschentücher aus einer Schublade, dann setzte sie sich zu mir und legte ihre Hand auf meine.
„Also. Wo warst du die letzten zwei Tage?”
Weinend erzählte ich Mara die ganze Geschichte. Wie wir im Park spazieren gingen, und Stan plötzlich zusammengebrochen war. Wie die drei Männer auf uns zukamen und uns bedrohten, wie Black sich mit Dan prügelte und dieser schon am Boden lag, dann aber Black mit dem Messer attackierte.
Ich erzählte vom Blaulicht und den ganzen Menschen, die plötzlich da waren, vom kalten weißen Krankenhaus und meinem naiven Egoismus. Und von den Geräten, Maschinen, Blutkonserven und Schläuchen, von den Monitoren mit den Linien und dem Piepen, von Blacks geschlossenen Augen und seinem Pflaster auf dem Hals. Dieses alles hörte sich so surreal an. Wie ausgedacht, wie in einer langweiligen Fernsehsendung. Irgendwie war es ganz weit weg und ich konnte es nicht begreifen. Schon wieder zitterte ich.
„Er wird nicht mehr aufwachen, Mara. Du solltest ihn sehen, wie er da liegt…”
„So was darfst du nicht mal denken! Er ist ein starker junger Mann, natürlich kommt er durch!”
„Und wenn nicht? Wenn sie gleich anrufen, dass ich anfangen kann, seine Beerdigung zu organisieren? Was ist wenn… oh Mara ich kann gar nicht daran denken. Alles wegen mir.”
„Gib dir bloß nicht die Schuld. Es ist einzig und allein die Schuld von Joe und diesen Typen. Haben sie die denn schon gefasst? Hoffentlich lassen die die nicht wieder laufen, solche Leute sollte mal viel härter bestrafen…”
„Ja, die haben die gleich gekriegt. Zum Glück, wenn ich mir vorstelle, dass die noch frei rumlaufen würden…”
„Wenigstens etwas”, seufzte Mara. „Auch wenn das Black auch nicht gesund macht.”
„Es ist so unfair, dass er da liegt und man nichts machen kann”, jammerte ich. „Man kann nur da sitzen und abwarten, und nicht mal das kriegt er mit. Ich würde so gerne rund um die Uhr im Krankenhaus bleiben, aber…”
„Das kommt überhaupt nicht in Frage”, unterbrach Mara mich. „Du siehst total fertig aus, du musst unbedingt schlafen. Boah, wenn ich daran denke, dass dieser Scheißkerl dich geschlagen hat, so ein Assi. Soll sich lieber seinesgleichen suchen. Weißt du was… du gehst jetzt erstmal ins Bett.”
„Ab…”
„Keine Widerrede. Ich werde am Telefon wachen und dir sofort Bescheid geben, wenn sich etwas tut.”
Mara stand auf, öffnete die Kühlschranktür und schien, nach Etwas zu suchen.
„Ich glaube, wir haben hier noch irgendwo Beruhigungstabletten, die hast du dringend nötig. Ach ja, und geh ruhig schon mal vor, willst du noch irgendwas zu Essen haben? Oder einen heißen Kakao? Tee? Wie wär’s mit einem ordentlichen Snack? Wie ich dich kenne, hast du lange nichts mehr gegessen.”
Für den Bruchteil einer Sekunde musste ich innerlich über Maras aufopferungsvolle Art lächeln. Natürlich hatte sie Recht. Bei dem Gedanken an Essen spürte ich, wie leer und ausgehungert mein Magen war. Ich sollte mich wirklich dringend stärken. Aber es war so ungerecht. Ich war fit und dachte über Essen und Tee nach, während Black alleine im Krankenhaus kurz vor dem Tod stand. Er hatte es nicht verdient, und er hatte nicht mal jemanden, der bei ihm war.
„Ich will zurück ins Krankenhaus, Mara. Black braucht mich…”
„Weißt du, du kannst Morgen früh wieder hinfahren, eher lasse ich dich nicht raus. Nicht in deinem Zustand. Du selbst wurdest auch verprügelt Lia, vergiss das nicht…”
„Ja, und deswegen lag ich ja auch schon zwei Tage in diesem blöden Krankenzimmer rum, unfähig, irgendwas zu tun. Ich lasse mich nicht ans Bett fesseln…”
„Ich würde dich absolut verstehen, wenn du was für ihn tun könntest. Kannst du aber nicht. überhaupt nicht. Es hilft ihm nicht, wenn du dich wach hältst, verstehst du? Hier sind die Tabletten.”
Mara drehte sich zu mir um und überreichte mir eine weiß-blaue Schachtel mit Pillen.
„Keine Widerrede. Ich verspreche, dir Bescheid zu sagen, wenn sie anrufen. Sofort.”
Ich nahm ihr die Tabletten aus der Hand und schlenderte in mein Zimmer. Kurz darauf kam Mara mit einem Tablett mit zwei belegten Brötchen und einem heißen duftenden Kakao hinterher und stellte alles auf meinem Bett ab.
„Vielleicht sieht morgen die Welt schon wieder anders aus”, sagte sie, und nahm mich noch mal in den Arm.
Widerwillig aber doch irgendwie dankbar nahm ich mir ein Brötchen, legte mich in mein Bett und zog die Decke über meinen Körper. Noch immer fror ich und fühlte mich wie ausgelaugt. Wahrscheinlich nahm mich das alles mehr mit, als ich zugeben wollte und um ehrlich zu sein, war ich ganz schön fertig.
-
Am nächsten Vormittag wachte ich von Telefonklingeln auf. Ich sah kurz auf die Uhr und stellte fest, dass es schon nach zehn war. Verdammt, ich hatte total verschlafen, dabei hatte ich mir doch vorgenommen, so früh wie möglich bei Black zu sein.
Ich rieb mir die Augen und richtete mich auf, dann klingelte das Telefon ein zweites Mal und mir wurde erst bewusst, wovon ich aufgewacht war.
Sofort sprang ich aus dem Bett und rannte aus meinem Zimmer in die Küche. Fast rutschte ich aus, als ich über den glatten Boden um den Tisch rannte und mich auf das Telefon stürzen wollte, doch dann nahm auch schon Kira genervt den Hörer ab.
„Klinik?”, fragte sie, nachdem der Anrufer sich scheinbar vorgestellt hatte und sofort schlug mein Herz noch schneller. Meine Hände zitterten und ich war mir sicher, dass es soweit war. Er war gestorben und ich war nicht da gewesen, sondern hatte seelenruhig geschlummert. Niemals würde ich mir das verzeihen können.
„Für dich”, meinte Kira, sah mich fragend an und überreichte mir den Hörer.
„Ja?”, hörte ich mich ängstlich sagen und rechnete mit dem Schlimmsten.
„Ah, Guten Morgen Frau Reichner. Hier spricht Udo Holz, von der Tierklinik Hamburg-Rahlstedt. Ich rufe an wegen des Hundes von Herrn Svart Peters…”
Für einen Moment war ich verwirrt, dann fiel mir ein Stein vom Herzen. Tierklinik. Es war nicht das Krankenhaus. Blacks Zustand hatte sich also nicht verschlechtert.
„Da Herr Peters nicht ansprechbar ist, wenden wir uns an Sie. Ihre Nummer wurde uns vom Krankenhaus gegeben, bitte entschuldigen Sie die Störung.”
Ich nickte, auch wenn mein Gesprächspartner dieses ja nicht sehen konnte, aber irgendwie fehlten mir die Worte. An Stan hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Was sollte denn jetzt bloß mit ihm werden? Wo sollte er hin?
„Der Dobermann befand sich drei Tage lang in unserer Behandlung und kann nun wieder entlassen werden, es sind keine Folgeschäden zu erwarten. Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, ob Sie ihn zu sich nehmen wollen, bis Herr Peters wieder gesund ist? Soweit ich weiß, hat Herr Peters keine Familienangehörigen, oder?”
„Ähm…, nein hat er nicht. Aber… ich kann den Hund nicht nehmen, ich habe überhaupt keine Ahnung von Hunden und… nein, das geht nicht.”
„Nun, wir sind keine Aufnahmestation für Hunde, aber es gäbe die Möglichkeit, ihn in eine Tierpension zu übergeben, bis sein Besitzer sich wieder um ihn kümmern kann.”
Ich atmete erleichtert durch.
„Ja ja, machen Sie das, das ist eine gute Idee.”
„Das ist allerdings ziemlich kostspielig und Sie müssten im Voraus bezahlen.”
„Wie viel?”
„Ab 20 Euro pro Tag, aber der Hund muss wahrscheinlich noch ab und zu von einem Tierarzt begutachtet werden, daher können die Kosten enorm steigen…”
„Aber ich weiß doch gar nicht, wie lange Bl… äh, Svart noch krank ist, vielleicht sind das noch Monate.”
„Und dieses würde nicht nur ihren Geldbeutel, sondern auch die Psyche des Tieres belasten. Ich empfehle Ihnen wirklich, ihn zu sich zu nehmen, das wäre für diesen voraussichtlich langen Zeitraum das…”
„Ja ja, gut”, gab ich zurück, ohne nachzudenken. „Ich kann ihn heute Nachmittag abholen denke ich, ist das okay? Wir kommen schon miteinander klar.”
„Das freut mich, Frau Reichner.”
Der Mann am Telefon erklärte mir den Weg zur Tierklinik, dann verabschiedete er sich höflich.
Ich legte das Telefon an die Seite und Kira sah mich fragend und irgendwie entgeistert an.
„Was war das denn jetzt? Warum geht’s?”
„Ich habe einen Hund”, war das Einzige, was mir einfiel. Dann musste ich mich erstmal wieder setzen. Irgendwie ging das alles zu schnell.
Wieso hatte ich bloß ja gesagt? Ich wollte mich jetzt schon am liebsten dafür ohrfeigen. Stan war groß, schwarz, stark und böse, jedenfalls sah er so aus. Eigentlich wusste ich es mittlerweile ja besser, aber mein Respekt vor Hunden dieser Art war doch geblieben. Ich erinnerte mich daran, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte im Beverly und wie ich mir sicher gewesen war, dieser Hund würde mich jeden Moment zerfleischen. Mein inniger Wunsch, dieses Tier nie wieder zu sehen, war noch fest in meinem Gedächtnis verankert.
Irgendwie hatte ich Stan aber doch mit der Zeit akzeptiert, er war einfach immer dabei gewesen, gehörte dazu. Und ich wusste ja, dass er eine liebe, treue Seele war und hatte auch keine Angst mehr vor ihm, solange Black dabei war. Solange Black dabei war. Das gab mir Sicherheit. Aber wie sollte ich alleine mit diesem Hund klarkommen? Noch nie hatte ich mich um einen Hund gekümmert geschweige denn, einen besessen. Und dann gleich ein wolfsähnliches Raubtier. Nein, er würde mich wirklich total überfordern.
Ich griff nach dem Telefonhörer und suchte nach der Nummer des letzten Anrufers.
Ich konnte Stan einfach nicht zu mir nehmen. Black würde das sicher verstehen und mir verzeihen… Black. Er stand noch immer auf der Schwelle zum Tod. In meinen Gedanken erschien die Szene aus dem Park, wie Black auf sein zusammengebrochenes Tier zugelaufen war und ich sah die Angst in seinen Augen, die Verzweiflung, die Verwirrtheit. Aber vor allem die blanke Panik.
Stan hatte es überstanden, das würde ihn sicher freuen, ja, ihm würde ein Stein vom Herzen fallen und auch seiner Genesung würde das sicher gut tun. Aber…
Ich dachte daran, wie Stan in einer überfüllten Tierpension zwischen vielen anderen bellenden Hunden hinter Gittern stand und traurig dreinblickte, und mein Herz krampfte sich zusammen. Er würde es nicht verstehen, würde warten, jeden Tag, jede Stunde, vergebens.
Vielleicht würde er aufhören zu fressen oder wieder krank werden. Und alles nur meinetwegen. Nein. Ich hatte schon genug Unheil angerichtet. Es würde schon irgendwie gehen. Ich konnte es schaffen. Für Stan. Für Black.
Ich legte den Hörer wieder weg und atmete entschlossen durch. Ich durfte jetzt keine Memme sein. Einmal in meinem Leben musste ich Stärke beweisen. Und etwas weniger Egoismus.