Kapitel 1
Leise Geräusche vernahm mein Ohr. Geräusche, die aus der
Ferne kamen. Geräusche, die ich nicht deuten konnte. Geräusche, die
so dumpf und lang gezogen klangen.
Dunkelheit umgab mich, ich wusste nicht, wo ich war. Endlos schien
das Unbekannte und doch sah ich in der Ferne ein kleines Licht. Es
blieb immer an derselben Stelle, mal sehr hell, mal weniger und dann
war es wieder ganz weg.
Ich spürte Kälte, spürte Hitze, Berührungen auf meiner Haut. Wo war
ich? Wer war ich?
Und dann war sie wieder da, die unheimliche Stille, die unendliche
Dunkelheit, bis ich wieder das Licht sah, die Geräusche vernahm und
etwas auf meiner Haut spürte.
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Wechsel erlebt habe, bis ich
versuchte meine Augen zu öffnen. Doch es blieb zum Anfang nur bei
Versuchen, denn ich schaffte es nicht.
Plötzlich wurde das Licht heller, die Geräusche deutlicher und
ein innerer Drang zwang mich dazu, meine Glieder zu bewegen. Doch es
ging nicht, es ging einfach nicht. Ich wusste, dass ich Finger habe,
konnte sie spüren, doch keine Befehle erteilen. Meine Beine fühlten sich
an, als wären sie mit Blei übergossen worden. Selbst der Versuch einen
Ton herauszubekommen scheiterte. Ich weiß nicht einmal, ob sich mein
Mund überhaupt bewegt hatte. Nun war sie wieder da, die unendliche
Dunkelheit.
Doch dann, ich weiß nicht, wie viel Zeit wieder vergangen
war, hörte ich ein für mich schmerzliches Geräusch. Ich schreckte
fürchterlich auf, auch wenn es nur innerlich war.
Ich hatte Angst, furchtbare Angst und plötzlich gelang es mir, meine
Augen zu öffnen. Doch die Bilder, die ich sah, ergaben keinen Sinn. Es
blendete so, als wenn ich direkt in die Sonne sehen würde. Immer
wieder musste ich meine Augen schließen, doch ich öffnete sie dann
auch gleich wieder, weil ich nie wieder eine solche unendliche
Dunkelheit erleben wollte.
Ich hörte Stimmen, zwar noch dumpf, aber es waren eindeutig
Stimmen. Voller Hoffnung, dass man mir jetzt helfen konnte, versuchte
ich mich irgendwie bemerkbar zu machen. Doch nur das piepende
Geräusch neben mir reagierte auf mich und wurde immer schneller.
Ich wurde müde, sehr müde. Doch mit all meinen Kräften wehrte ich
mich. Ich wollte nicht wieder einschlafen. Das Piepen wurde immer
schneller und lauter. Ich sah einen Schatten über mir, einen Schatten
in Form eines Menschen. Auf einmal wurde es ganz hell, mal mehr, mal
weniger. „Das kann nicht sein“, waren die ersten Worte, die ich
verstand.
.
Es wurde wieder ruhig. Ich hörte Schritte, die immer leiser
wurden. „Geh nicht, bitte geh nicht!“, versuchte ich meinen Gedanken
auszusprechen, was mir wohl nicht gelang.
Doch dann näherten sich wieder Schritte und wieder blendete mich
etwas. Ich spürte eine Berührung, einen Druck an meinem Arm. Mit halb
geöffneten Augen sah ich wieder Schatten über mir. Schatten, die
immer dichter kamen. Doch dann bekam ich Panik. Wer waren diese
Schatten, was wollten sie von mir? Ich wollte fliehen, hatte plötzlich
Todesangst und auf einmal konnte ich auch meinen Körper bewegen
und schlug gleich wild um mich.
Doch etwas hielt mich fest, so lange, bis meine Kräfte am
Ende waren. Ich beugte mich meinem Schicksal und lag wieder willenlos
da.
„Herr Schneider …? Herr Schneider, können Sie mich hören?“, hörte ich
eine leise Stimme.
Ich öffnete mit Mühe die Augen und sah eine frauenähnliche Gestalt,
die mich anstarrte.
„Herr Schneider, können Sie mich hören? Wenn ja, dann drücken Sie
meine Hand“,hörte ich erneut und wollte antworten, bekam aber keinen
Ton heraus. Ich spürte etwas in meiner Hand und versuchte, sie zu
drücken. Ob es mir gelang, weiß ich nicht einmal. Aber diese Frau über
mir, die ich nun als solche deutlicher erkennen konnte, lächelte und
sagte: „Willkommen zurück im Leben.“
Ich war immer noch nicht fähig zu sprechen, so blinzelte ich
mit dem Auge, um ihr zu antworten.
„Herr Schneider, Sie befinden sich in einem Krankenhaus und ich bin
Doktor House. Haben Sie das verstanden?"
Ich blinzelte wieder, doch konnte ich mit dem Namen Schneider nichts
anfangen. Meine Sinne schienen immer besser zu werden. Ich konnte
die Frau, die mich so liebenswert ansah, nun gut erkennen und nahm
auch das Räumliche um mich herum war. Mindestens vier Personen, die
mich anlächelten, konnte ich erkennen
„Herr Schneider, wir müssen ein paar Untersuchungen
machen. Keine Angst, es ist nichts Schlimmes. Ich werde jetzt Ihre
Motorik testen, indem ich verschiedene Körperteile ein paar Reizen
aussetze.“
Ich blinzelte wieder, obwohl ich keine Ahnung hatte, was sie machen
wollten. Es kribbelte ein wenig und ich bewegte eher willenlos Arme und
Beine. Es war ein komisches Gefühl, so hilflos jemandem ausgeliefert zu
sein. Ich hatte hundert Fragen, doch konnte sie nicht stellen.
Mein Mund bewegte sich, ich fing schwer an zu schlucken, zu husten,
doch ich bekam noch kein Wort heraus.
„Versuchen Sie noch nicht zu sprechen, das ist noch zu anstrengend
für Sie. Es wird in ein paar Stunden besser klappen. Dann werde ich
Ihnen auch erzählen, warum Sie hier sind. Aber eine gute Nachricht
habe ich schon mal, auf die motorischen Reize reagieren sie sehr gut“,
sagte mir die Ärztin und ich konnte nur abwarten.
Viel konnte ich noch nicht bewegen, nur meine Augen
verfolgten das Treiben im Zimmer und nach und nach konnte ich auch
meinen Kopf leicht drehen. Es standen noch weitere Betten im Zimmer
und alle, die dort drinnen lagen, schliefen fest.
„Nun wollen wir mal den Tag reinlassen“, hörte ich von einer
Krankenschwester, als sie die Rollos am Fenster etwas hochfuhr. „Ich
bin Schwester Silvia und kümmere mich so gut ich kann um Ihr Wohl.
Bald wird es Ihnen besser gehen. Freut mich sehr, dass Sie endlich
aufgewacht sind.“ Sie ging so fröhlich durch den Raum und versorgte
die anderen Patienten, obwohl diese schliefen. Dabei redete sie mit
ihnen, als würden sie wach sein. Was für eine seltsame Person. Sie
summte eine Melodie vor sich her, die mich müde werden ließ.
Ich musste wohl wieder geschlafen haben, aber als ich
aufwachte, fühlte ich mich schon besser und hatte ein kaum
auszuhaltendes Verlangen. Ich schluckte, obwohl mein Mund total
trocken war.
„Durst, ich habe Durst“, waren meine ersten Worte. Die Schwester, die
sich gerade im Zimmer befand, drehte sich erschrocken um. „Haben Sie
etwas gesagt?“, fragte sich mich verwundert.
„Durst“, versuchte ich noch einmal meinen Wunsch zu äußern.
„Oh ja, ich verstehe, Sie haben Durst. Ist bei der trockenen Luft hier
auch kein Wunder. Aber so Leid es mir tut, ich darf Ihnen nichts zum
Trinken geben. Aber ich habe eine andere Lösung, die Ihrem Durst
etwas Erleichterung verschaffen könnte“, meinte die Schwester und ich
wunderte mich. Warum darf ich nicht trinken? Komisch, wo war ich hier
nur hingeraten! Ich sah die Schwester zu einem Schrank gehen und
dann ein Tuch oder so etwas Ähnliches unter den Wasserhahn halten.
„Hier, nehmen Sie das in den Mund und atmen ein paar Mal dadurch
ein. Aber bitte nicht aussaugen, denn wenn sie sich verschlucken,
bekomme ich Riesenärger!“, meinte sie mit einem warmen Lächeln. Und
in der Tat, der kaltfeuchte Lappen in meinen Mund war eine Wohltat
Ich hatte das Bedürfnis aufzustehen und musste mich wohl
ziemlich blöd dabei angestellt haben, jedenfalls kam ich nicht hoch und
die Schwestern, mittlerweile waren zwei im Zimmer, bekamen das wohl
mit.
„Oh nein, Herr Schneider, was Sie da vorhaben, wird noch nicht
funktionieren. Sie wollen doch nicht gleich wieder umfallen, falls es
Ihnen überhaupt gelingt sich hinzustellen. Wir müssen erst einmal Ihren
Kreislauf auf Touren bringen“, sagte eine der beiden, kam zu mir ans
Bett, richtete mich in eine Art Sitzposition und polsterte mich seitlich
mit Kissen ab, als habe sie Angst, ich könnte irgendwie wegsacken.
Mir wurde tatsächlich sehr schwindelig und hätte ich gestanden, wäre
ich bestimmt umgefallen. Doch nach einer Weile hatte ich
beziehungsweise mein Körper sich an die ungewohnt aufrechte Position
gewöhnt.
Danach ging alles relativ schnell. Mit jeder Stunde, die
verging, konnte ich mich mehr bewegen, jedenfalls im Bett, denn
Aufstehen ging noch nicht. Es wurden wieder einige Untersuchungen
gemacht, wie zum Beispiel ein EKG, ein EEG und einige andere, die ich
nicht recht verstanden hatte. Meine Zimmergenossen schliefen immer
noch und das fand ich sehr merkwürdig, zumal alle mit ihnen redeten,
als wären sie wach. Aber nun bekam auch ich ein großes Verlangen
nach Antworten. Dass ich in einem Krankenhaus war, hatte ich ja
schon bemerkt - aber warum war ich hier? Und wer war ich überhaupt?
Ich versuchte mich an irgendwas aus meiner Vergangenheit zu
erinnern, doch mir fiel nicht einmal mein eigener Name ein. Schneider
war wohl mein Nachname, da das Personal mich so nannte. Aber selbst
dieser sagte mir nichts.
„Was ist passiert, warum bin ich hier?“, fragte ich in den Raum hinein
und meine Stimme war wohl immer noch ziemlich leise, denn ich musste
meine Frage wiederholen. Eine Schwester kam zu mir und sagte: „Das
darf ich Ihnen nicht sagen, aber ich werde Frau Doktor holen, wenn Sie
möchten. Sie wird ihnen alles erklären.“ Ich nickte und die Schwester
verließ das Zimmer.
Kurze Zeit später kam sie mit der Ärztin wieder, die sich einen
Stuhl nahm und sich zu mir ans Bett setzte. In ihrer Hand hielt sie
einen dicken Ordner und blätterte in ihm herum. Sie sah mich freundlich
an und fragte: „Geht es Ihnen schon etwas besser? Sicherlich kommt
Ihnen hier alles sehr merkwürdig vor, aber Sie haben auch viel
durchmachen müssen.“
Da ich mich ja selber an nichts erinnerte, schaute ich sie nur fragend
an. Doch ehe ich eine Antwort bekam, wurde ich wieder gefragt: „Herr
Schneider, können Sie sich an irgendetwas erinnern?“
Ich schüttelte mit dem Kopf und die Ärztin meinte: „Das kann schon
passieren nach so einer schweren Kopfverletzung. Herr Schneider, Sie
hatten einen schweren Unfall gehabt. Als der Rettungsdienst Sie zu uns
brachte, waren Sie bewusstlos und schwer verletzt. Sie hatten
Frakturen an Armen und Beinen, doch die machten uns weniger Sorgen.
Das, was uns sehr beschäftigte, war Ihre schwere Kopfverletzung. Sie
hatten einen Schädelbruch und ein Schädelhirntrauma. In einer OP
mussten wir ihren Schädelknochen, der sich verschoben hatte, wieder
richten. Sie hatten noch großes Glück gehabt, denn der abgebrochene
Teil Ihrer Schädeldecke ist nicht ins Gehirn eingedrungen. Durch die
Schwere der Kopfverletzung mussten wir Sie in ein künstliches Koma
versetzen, damit das Gehirn, das anschwoll und einen Druckausgleich
benötigte, nicht zu sehr belastet wurde.
Auch hatten wir befürchtet, Ihr linkes Auge zu verlieren. Doch zum
Glück konnten wir es erhalten und es ist nur eine große Narbe
geblieben. Ihre Heilung verlief besser, als wir dachten und nach zehn
Tagen künstlichem Koma haben wir Sie wieder aufwachen lassen.
Am Anfang ging auch alles gut, doch plötzlich sind Sie in ein natürliches
Koma gefallen und gestern erst wieder aufgewacht.“
Die Ärztin sprach sehr langsam und vergewisserte sich, dass
ich auch alles verstand, was ich mit einem Kopfnicken bejahte.
„Aus Ihren persönlichen Sachen, die Sie dabei hatten, konnten wir
entnehmen, dass sie Deniel Schneider heißen und am 03.03.1987
geboren sind. Leider konnten wir keine Verwandten von Ihnen ausfindig
machen. Die Polizei, die ja auch den Unfall bearbeitete, hat bei ihren
Recherchen herausgefunden, dass Sie die letzten Jahre bis zu Ihrer
Volljährigkeit in einem Heim verbracht haben. Doch ich denke mal, dass
es an Informationen für heute reicht. Sie leiden an einer Amnesie, die
nicht ganz untypisch nach so einem langen Koma ist. Jetzt heißt es
abwarten, was Ihre Erinnerung angeht. Für Ihren Körper allerdings
beginnt jetzt viel Arbeit. Wie Sie bemerkt haben, können Sie Ihre
Glieder noch nicht belasten, das ist ganz normal, denn Ihre Muskeln
müssen nun erst wieder aufgebaut werden.
Herr Schneider, sie lagen vier Jahre im Koma.“
Vier Jahre unendliche Dunkelheit, ging mir durch den Kopf. Was meine
Verletzungen anging und das, was mit mir gemacht worden war, konnte
ich im Nachhinein erst richtig verstehen. Was eine Amnesie ist, wusste
ich, denn meine Allgemeinbildung litt wohl nicht darunter. Ich war also
Deniel Schneider. Der Name sagte mir überhaupt nichts, auch mit einem
Heim konnte ich nichts anfangen. Aber was soll man nach vier Jahren
Koma erwarten? Meine Hoffnung war nun, dass mir nach und nach alles
wieder einfallen würde.
Fortsetzung folgt