Ich mag die Sterne. Sie leuchten so schön und jeder einzelne von
ihnen erzählt eine Geschichte. Dieser hier, der erzählt von meiner
Katze, sie lebt nicht mehr, aber ich habe sie trotzdem noch gern.
Hoffentlich werde ich sie nicht vergessen. Der daneben, das ist mein
Kanarienvogel. Und dort? Das ist meine Mutter. Er ist der schönste
Stern von allen. Er ist groß und funkelt so schön. Ich liebe ihn,
genau wie ich meine Mutter geliebt habe... Sie hat uns viel zu früh
verlassen, viel zu früh ist sie zu den Engeln gegangen um selbst
einer zu werden. Ich vermisse sie sehr. Es ist schon einige Monate
her, aber der Schmerz den wir verspüren wird von Tag zu Tag
größer. Er verschwindet nicht, egal was wir tun.
Du wirst sehen, bald ist alles wieder gut, sagen sie. Das sagen sie
ohne eine Ahnung zu haben wie schwer die Zeit, die verstrichene
wie auch die kommende und die gegenwärtige für uns ist, ohne zu
wissen was der Tod uns für Schmerzen zugefügt hat, was für ein
großes Stück er aus unserem Leben gerissen hat. Es tut mir so Leid,
sagen sie, ohne es ernst zu meinen, ohne zu wissen wie sehr diese
Worte, wenn man versucht alles zu vergessen, schmerzen können...
Aber, will ich alles vergessen? Kann ich alles vergessen? Wie schön
die Sterne heute sind. Vielleicht schaut sie heute auf uns herunter,
betrachtet uns mit einem Lächeln auf ihrem schönen Gesicht, sorgt
sich um uns. Ich weiß selbst am besten, dass sie nicht wollte, dass
wir nun so leiden, aber was können wir schon dagegen tun? Es
einfach vergessen? Ich will doch nicht vergessen was für ein Geschenk
es war sie unter uns zu haben... Du denkst zu viel, sagen sie, ohne
zu wissen wie viel ich denke, ohne mich zu kennen, ohne meine
Sorgen und Ängste zu kennen und ohne zu wissen was geschehen
ist, was mich zum nachdenken veranlasst. Kannst du denn nicht einmal
den Mund aufmachen, fragen sie, ohne zu wissen was sie von mir
fordern. Ich kann es nicht, will es nicht, will nicht, dass mir jemand
zu nahe kommt, damit ich nicht noch einmal diese Qualen des
Loslassens durchleiden muss.
Meine Familie? Habe ich eine Familie? Mein Vater? Er ist nicht mehr
der Selbe. Er fragt nicht, er spricht nicht, es ist ihm egal. Ist es
ihm egal? Mir ist es nicht egal. Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts.
Nichts. Alle sagen, dass alles gut werden würde. Wird es das?
Wer kann mir eine Garantie darauf ausstellen, dass alles gut wird?
Keiner. Keiner. Beruhige dich, es wird schon wieder, sagen sie. Das
sagen sie. Ich kann, will es nicht mehr hören. Ohne zu wissen was
passiert ist, wollen die Menschen unbedingt ein Teil des Geschehens
erhaschen, wollen versuchen alles gut werden zu lassen, doch das
können sie nicht. Niemand kann das. Nicht einmal die Sterne. Sie
wissen es, jene die von uns gegangen sind wissen es, denn sie
sehen uns. Sie beschützen und wachen über uns, sehen alles was
wir tun. Wie gern ich mich verabschieden würde, nur einmal noch ihr
Gesicht sehen, sie nur noch einmal zu umarmen, nur noch einen
Gutenachtkuss, dann bin ich glücklich. Warum? Das frage ich mich
jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde die ich
auf diesem Planeten wandle. Warum ich, warum wir?
Du bist nur ein Mädchen, ein kleines Kind, verhalte dich dement-
sprechend, sagen sie. Warum sollte ich, wenn ich es nicht will? Ich
will kein kleines Kind sein, dazu bin ich innerlich zu sehr gewachsen,
die Trauer die in meinem Herz wächst, lässt auch mich wachsen...
– Oder doch? Will ich ein kleines Kind sein, dass weinen darf, das
seine Gefühle zeigen darf, die seine Mutter aufrichtig vermissen darf
und die das sagen darf was sie denkt, kann ich das überhaupt?
Die Katze, der Kanarienvogel und meine Mutter. Alle passen sie auf
mich auf. Jederzeit kann ich zu ihnen sprechen, nur an der Antwort
mangelt es mir. Draußen ist es weiß. Schnee. Es ist Dezember,
Weihnachten rückt näher. Das erste Weihnachten ohne Mama, das
erste Weihnachten an dem ich allein in der Ecke sitzen würde, und
in den Gedanken die vergangenen Weihnachten besuchen würde.
Die Feste an denen wir zusammen unter einem großen, prächtig
geschmückten Baum säßen und an denen meine Eltern mir stolz ihr
Geschenk überreichen würden. Ich hatte nie viel bekommen, nie
viel verlangt, ich war immer glücklich. Es ist dunkel und kalt, draußen.
Niemand wagt sich zu dieser Uhrzeit mehr auf die Straße. Es ist schon
spät. Viel zu spät um noch wach zu sein, aber was sollte ich tun wenn
ich nicht schlafen kann?
Während ich an meinem Fenster das flockige, gefrorene Nass vorbei-
rieseln sehe, verspüre ich die Lust raus zu gehen. Einfach zu laufen so
weit es mich treibt. Aufhören wann ich will, oder laufen bis ich nicht
mehr kann, bis ich im Schnee umfalle weil es zu anstrengend ist. Ich
verlasse das Zimmer, ich kümmere mich nicht darum ob mir kalt ist oder
nicht, ich fühle nichts. Nur den drang das Haus zu verlassen. Zu gehen
wohin es mich verschlägt. Der Mond scheint, bewacht still das Treiben der
Welt. Ich laufe, ohne nachzudenken, ohne etwas zu fühlen durch den
eisigen Schnee. Doch es macht mir nichts aus. Ich weiß nicht wohin ich
gehe, ich weiß nur, dass mich nun nichts mehr aufhalten kann. Ich
weiß nicht wo ich bin. Ich war hier noch nie. Aber ich weiß, dass ich
richtig bin. Hier gibt es nichts, nur Schnee und Felder, die unter
einer Schicht Schnee begraben sind.
Ich kann nichts sehen, nur weiß und den tiefblauen Himmel darüber
und meinen Stern, der mir folgt. Meine Mutter passt auf, dass mir
nichts passiert. Sie will nicht, dass mir etwas zustößt, sie will,
dass es mir gut geht. Der leichte Schneefall wird immer mehr zu
einem Schneesturm. Ich kneife meine Augen zusammen, denn
ich kann fast nichts mehr erkennen. Nur die Umrisse, der mit
Schnee beladenen, Bäume sind noch leicht zu erkennen und vor
mir liegt ein großer Berg. Ohne zu überlegen gehe ich den Pfad entlang.
Immer weiter nach
oben. Langsam spüre ich die Kälte in mir hinaufkrichen. Ich
schlinge die Arme um meinen Körper, doch es nützt nicht viel. Doch
umdrehen, wieder nach Hause gehen, kann ich nicht. Mein Herz sagt,
entgegen meinem Verstand, dass ich es bereuen würde, würde ich
nun gehen, meinen Weg hier beenden. Niemals zuvor war ich je
an diesem Ort gewesen, doch, aus irgendeinem Grund weiß ich
wo ich bin.
Die Gegend, so unbekannt sie mir auch scheint, ist mir nicht fremd.
Ich weiß nicht wo und warum ich hier bin, aber eine leise Stimme,
tief im inneren meines Herzens sagt mir, dass ich hier nicht fehl am
Platz bin, dass es etwas gibt, was ich noch erledigen muss, ehe ich den
Heimweg antrete. Es fühlt sich an als ob Stunden vergehen, die ich
durch den Schnee laufe, aber der Himmel, doch bereits als ich
aufbrach dunkel war, ist immer noch dunkelblau, fast schwarz. Die
Sterne, durch den Schneesturm fast nicht zu sehen, leuchten immer
noch. Ich bin fast oben angelangt. Der Himmel scheint so nah.
Die Sterne scheinen heller wie nie zuvor und der Schneesturm hat
sich fast gelegt. Nur noch vereinzelt fallen Schneeflocken
auf die Erde. Ich laufe schneller, ich weiß, dass ich fast an meinem
Ziel angelangt bin.
Ein helles Licht bewegt sich langsam auf mich zu. Ich kann meinen
Augen nicht trauen. Zaghaft fahre ich mir mit den Händen über
die müden Augen. Mit einem Schlag erlischt alle Müdigkeit aus
meinem Kopf: nur wenige Meter von mir entfernt steht meine
Mutter. Ich kann sie nicht klar erkennen, denn das helle Licht,
welches sie umgibt trübt meine Augen. „Mama, ...?“, frage ich nur.
Die Person nickt und kommt auf mich zu. Sie schließt mich
in die Arme, flüstert mir etwas in mein Ohr. Ich nicke. Ich kann
meine Tränen nicht zurückhalten. „Ich muss jetzt gehen, ein schönes
Weihnachtsfest, Liebling,“ ein letztes Mal hält sie meine Hand,
gibt mir einen Kuss, dann verschwindet sie im Licht.