Kinder sind Hoffnungen, die man verliert, und Ängste, die man nie loswird.
(Karlheinz Deschner)
Endlich kam sie mal dazu, sie anzurufen. Schon seit fast zwei Wochen hatte Lisa Farrel sich nicht mehr bei ihrer Tochter gemeldet.
Sie wusste, dass es falsch war, denn Samantha steckte in einer wahrlich schwierigen Situation. Und auch wenn sie es sich niemals würde anmerken lassen, brauchte sie ihre Mutter jetzt, konnte jetzt nicht alleine sein. Durfte nicht alleine sein.
Mit der Krankheit ihres Mannes hatte Lisa viel zu tun, kam kaum dazu, sich um sich selbst zu kümmern. Die Wohnung sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen und an den Garten mochte sie gar nicht denken.
Wenn sie doch nur die Zeit hätte, Samantha zu besuchen. Ein paar Tage bei ihr zu bleiben. Sicherlich war es furchtbar einsam in diesem großen Haus so weit draußen. Ohne Kinder. Ohne Mann.
Oder wenn sie Catherine erreichen könnte. Über einen Besuch ihrer Schwester würde sich Samantha sicherlich freuen. Mit ihrer jugendlichen Energie könnte sie Samantha bestimmt auf andere Gedanken bringen.
Doch Catherine lebte schon seit drei Jahren im Ausland und ließ so gut wie gar nichts mehr von sich hören.
Ob es ihre Schuld war? Ob sie sich mehr hätte kümmern müssen, um ihre jüngste Tochter?
Bei Gelegenheit würde sie sie noch mal anrufen.
Aber die nächste halbe Stunde von Lisas Freizeit war Samantha vorbehalten. Endlich mal eine halbe Stunde Zeit für ihre Tochter.
Die grauhaarige Frau hatte das Telefon auf Freisprechen gestellt, wie sie es immer tat und lehnte sich in den ausgesessenen Lehnstuhl zurück. Ihr Rücken wurde ihr immer mehr zur Last. Wenn sie doch nur Zeit für eine Kur hätte. Oder zumindest für einen Arztbesuch. Was würde sie für ein paar erholende Tage geben.
Sie freute sich, dass sie Samanthas Nummer nun endlich auswendig konnte. Vor Pauls Tod hatte sie ihre Tochter höchstens noch zwei Mal im Jahr angerufen. Zum Geburtstag. Und zu Weihnachten. Man hatte sich einfach nichts zu sagen.
Aber die Not brachte sie wieder zusammen.
Nach dem vierten oder fünften Klingeln vernahm sie eine schwache Stimme am anderen Ende der Leitung. Man konnte hören, dass sie wieder geweint hatte. Dass es ihr nicht besser ging. Wahrscheinlich aß und schlief sie noch immer unregelmäßig.
„Hallo Sam, hier ist deine Mutter“, begrüßte Lisa sie so ruhig wie möglich. Es folgte ein kurzes Schweigen.
„Ach Mama. Nenn mich nicht Sam. Du weißt doch, er…“
„Ja, ich weiß.
Er hat es immer getan.“
Aber ich auch, früher, als du noch jung warst, dachte sie.
„Was gibt’s denn?“
„Wie geht es dir, mein Kind?“
Samantha antwortete nicht, und Lisa wusste, was das bedeutete. Sie musste sie wirklich dringend irgendwie ablenken.
„Ist bei euch auch so schönes Wetter?“, fragte sie, um ein Gespräch zu entwickeln.
„Ist wohl ganz nett.“ Abweisend. Resigniert.
Es hatte keinen Sinn.
Hatte keinen Sinn, sie zu fragen, was sie machte, oder ob sie Pläne hatte. Ob sie vorhatte, mal zu verreisen oder wieder zur Arbeit zu gehen.
Die Antworten kannte sie längst.
„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dich psychologisch behandeln zu lassen? Ich kenne da einen guten Psy…“
„Der mir dann was genau erzählt, Mama? Dass das Leben weitergeht und ich Spaß haben soll, weil ich noch so jung bin? Ich kann das nicht gebrauchen.“
„Paul würde es auch nicht gefallen, wenn du jetzt in Depressionen verfällst.“
„Paul ist tot, Mama. Verstehst du, was das heißt?“
Sie verstand es.
Verstand es leider nur allzu gut.
„Und du lebst weiter, Sam. Lebe weiter! Was hältst du davon, wenn Cathi dich für ein paar Tage besucht? Das wäre doch eine gute Idee, oder? Dann wärest du nicht alleine…“
„Cathi?“
Samantha hatte ihre jüngere Schwester schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wenn sie ehrlich war, dachte sie nicht mehr oft an sie. Cathi lebte in England und machte Karriere als Mediendesignerin. Ob sie glücklich war? Samantha wusste es nicht.
„Ich habe sie noch nicht gefragt“, gab Lisa ehrlich zu. „Aber vielleicht hat sie ja bald Urlaub.“
Sie hatte Urlaub. Als Lisa ihre jüngste Tochter an diesem Abend anrief, war diese zwar überrascht, aber dennoch nicht abgeneigt von der Idee, ihre Schwester Samantha zu besuchen und das Leben zurück in ihr Haus zu bringen. Das Leben, von dem sich Samantha abwandte, das sie so hasste.
Tatsächlich gefielen diese Aussichten Catherine sogar überraschend gut. Wieso war sie nicht selbst darauf gekommen, ihre Familie in Deutschland zu besuchen? Nur noch selten dachte sie an ihr Heimatland, aber wenn, dann vermisste sie es. Vermisste die Landschaft an der Ostsee, vermisste die Sprache, ja – vermisste sogar das Essen. Am meisten vermisste sie den Halt ihrer Familie, den ihr hier in England nie jemand geben könnte, egal wie lange sie hier wohnte und wie gut sie sich auch einlebte.
Familie.
Ja, sie würde Samantha beistehen.
Ging ja nicht an, dass diese in Trauer versank, während Catherina fröhlich Werbeplakate für Zahnpasta entwarf.
Sie würde den nächsten Flug nehmen. Und dann würde Samantha bald wieder lächeln.