Wow, ich hätte nicht im Traum gedacht, dass es noch so viel Interesse gibt. Hab mich wie angekündigt etwas zusammengerissen und hab endlich das neue Kapitel fertig 
Viel Spaß beim Lesen!
Kapitel 19 - Alec
Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu.
(Udo Lindenberg)
Hundefutter. Sportschuhe. Bademäntel. Es verfolgte ihn bis nach Hause. Natürlich verfolgte es ihn. Wie könnte es auch nicht?
Alec Liffrey hatte sich mit seinem Notizblock auf der schwarzen Ledercouch seines Apartments niedergelassen und starrte auf das obere Blatt Papier. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er damit verbracht, seine Gedanken in Worte, in Zeichnungen, in Grafikskizzen zu verwandeln, seine Ideen irgendwie umzusetzen, aber er wusste, dass es alles Müll war. Absoluter Stuss. Wenn er so weiter machte, würde er immense Mühe haben, seine Mitstreiter auszustechen, das war ihm klar. Vielleicht lag es an der Uhrzeit. Vielleicht war drei Uhr morgens einfach nicht der ideale Zeitpunkt für die kreative Ausgestaltung seiner Gedanken.
Die Zigarette, die er im Aschenbecher vergessen hatte, qualmte vor sich hin und seine letzte Flasche Wasser hatte er soeben in wenigen Zügen vollständig geleert. Vielleicht sollte er sich betrinken. Alec stand auf und ging durch den Raum. Was war los mit ihm? Dass er ruhelos war und sich unter extremen Druck setzte, war normal. Dass er nichts dabei fertig bekam und sich nur im Kreis drehte, allerdings umso weniger. Und immer diese Gedanken. Vielleicht lag es an Tim Hitcher.
Vielleicht sollte er seinen alten Freund einfach anrufen und sagen, dass er das Haus nicht kriegen würde. Dass es nicht zum Verkauf stünde und dass sie sich ein anderes suchen müssen. Dass er versagt hätte. Er. Versagt. Vielleicht würde er dann wieder einen freien Kopf bekommen. Ja, vielleicht. Bei dem Gedanken daran musste er fast über sich selbst lachen. Alec riss das obere Blatt vom Notizblock ab und knüllte es zusammen. Wie lange war es her, dass er etwas nicht fertig gekriegt hatte? Und wer war er eigentlich, dass er darüber nachdachte, zu kapitulieren?
Er ging an die Bar und schenkte sich ein Glas Cognac ein.
Es war kalt in seiner Wohnung, nicht kälter als sonst, aber heute nahm er es wahr. Wahrscheinlich war er einfach übermüdet. Er sollte tatsächlich schlafen.
Nachdem er zwei Gläser Cognac heruntergeschüttet und anschließend kalt geduscht hatte, ließ Alec sich in sein Bett fallen. Er hasste Tage wie heute. Tage, an denen er nichts geschafft hatte. Er wünschte sich, dass er sie aus seinem Leben streichen könnte. Absolut Zeitraubend.
Obwohl er müde war und ihm sogar die Augen schmerzten, konnte Alec nicht schlafen. Nicht, dass er Schlafen nicht für die sinnloseste Zeitverschwendung überhaupt hielt – er hatte sich sogar schon über diese neuen Pillen aus den USA informiert, die das Schlafbedürfnis hemmten – aber heute Nacht kam der Gedanke daran ihm erfüllender vor, als alle anderen Optionen. Vielleicht konnte Schlaf tatsächlich helfen.
Er träumte schlecht und wachte nach zwei Stunden wieder auf. Es war sein Vater, der ihm nicht aus dem Kopf ging. Alec wusste, dass er enttäuscht von ihm sein würde. Enttäuscht sowieso, weil er immer enttäuscht war, und nie stolz, egal was man machte. Aber dieses Mal war es anders. Enttäuscht, weil er vor dem Scheitern stand. Weil er das Haus noch nicht hatte und Tim es für nächste Woche versprochen hatte. Weil er noch keinen akzeptablen Entwurf für die Sportschuh-Kampagne hatte. Und weil er Gefahr lief, subjektiv zu urteilen und seine Gefühle in Geschäftsprozesse mit einfließen zu lassen. Weil er Gefahr lief, nicht mehr der zu sein, der er geworden war.
Alec hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu seinem Vater gehabt und er konnte sich auch nicht daran erinnern, wann er ihm das letzte Mal in seinen Träumen begegnet war. Er wusste nur, dass es immer in den schlimmsten Situationen geschah. Dann, wenn er vorm Scheitern stand. Dann, wenn ihm nicht gelang, was er sich vorgenommen hatte. Alec wusste, dass er Tim nicht anrufen durfte. Und er wusste, dass er sich zusammenreißen musste.
Ein drittes Glas Cognac und eine Zigarette halfen Alec über die gröbste Melancholie hinweg. Da er weder wieder einschlafen konnte, noch wollte, startete er den Computer und recherchierte bezüglich der von Paul Louis’ Tod profitierenden Kollegen. Die Artikel, die er über Justus Ahlger, der Louis’ Position in der Firma übernommen hatte, fand, verstärken Alecs negatives Bild von ihm. Ahlger war jemand, der in seiner beruflichen Laufbahn hauptsächlich durch scheinbares Glück und weniger durch Können geglänzt hatte. Er schien falsch, kalt und aufs Härteste verbissen und Alec traute ihm absolut zu, bei Louis’ Tod nachgeholfen zu haben.
Er wusste, dass es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gab, wusste aber auch, wie es im Geschäftsleben zuging und mit welchen Mitteln und Beziehungen gearbeitet wurde, um im Weg stehende Kollegen auszuräumen. Vielleicht war ja gar nicht der Tod geplant gewesen, vielleicht hatten sie nur an eine schwerere Verletzung gedacht, die den Kontrahenten für längere Zeit ausschalten würde. Alec war bewusst, dass ihn das nichts anging. Louis’ Todesumstände könnten ihm für sein Vorhaben gänzlich gleichgültig sein und er wusste nicht, warum er sich dafür interessierte. Er klickte die Seite mit dem Artikel weg und das Bild mit Ahlgers kaltem Lächeln brannte sich auf seine Netzhaut.
Alec riss sich zusammen und verfasste eine E-Mail an jenen Bekannten, der zu den besten Dokumentenfälschern Norddeutschlands gehörte. Sobald der mit Louis’ angeblicher Unterschrift versehene Kaufvertrag für das Haus fertig war, würde er ihn der Witwe unter die Nase halten. Hoffentlich hielt sie viel auf den letzten Wunsch ihres Mannes und sah ein, dass sie mit 1,2 Millionen Euro besser dastand als mit einem viel zu großen Haus, das ihr nur zur Last fiel. Vielleicht würde sie endlich einwilligen, nicht dass er sie am Ende wirklich noch rausklagen musste.
Ja, wahrscheinlich würde sie beim Anblick der perfekt gefälschten Unterschrift ihres Mannes klein beigeben. Wahrscheinlich würde sie Alec dann nicht mehr für das Monster halten, sondern für jemanden, der einfach ein angefangenes Geschäft beenden will.
Und vielleicht sollte Alec sie fragen, ob sie mit ihm essen gehen will.