

Müde ging ich durch die ausgedehnten Gänge des Palastes.
Die Heiler hatten mich Brayans Wunde versorgen lassen, aber dann jede weitere Hilfe meinerseits mit der Begründung abgelehnt, dass ich in meinem verdreckten, erschöpften Zustand eher Schaden anrichten würde als von Nutzen zu sein, und mich zum Baden und Schlafen geschickt.
So betrat ich meine Gemächer, in denen Ceilith, meine Kammerfrau, schon auf mich wartete.

„Herrin!", rief sie erleichtert. „Es geht Euch gut!"
„Nichts Schlimmes passiert, Ceilith", erwiderte ich.
„Braghan?", erkundigte sie sich angstvoll nach ihrem Mann.
„Auch ihm geht es gut", beruhigte ich sie, und sie atmete erleichtert auf.
„Ich habe ihn gerade bei den Heilern getroffen; er ist unverletzt. Ihr solltet auch dorthin gehen, sie können jede Hand gebrauchen."
„Erst, wenn Ihr versorgt seid, Herrin", wehrte Ceilith ab.
Sie zögerte einen Moment. „In den Straßen von Caer Mornas erzählt man sich schlimme Dinge über diesen Angriff."
„Es war schlimm, Ceilith", bestätigte ich müde, schwieg aber dann. Ich wollte ihr keine Angst machen. Vielleicht täuschte ich mich, und mein Unbehagen und meine Vorahnung kommenden Unheils waren grundlos.
„Ein Bad, Herrin?", fragte Ceilith, „Und etwas zu essen?"
„Ein Bad wäre schön, danke; aber ich bin nicht hungrig. Ich möchte nur den Schmutz und das Blut abwaschen und dann etwas schlafen."
Mit einem kleinen Aufschrei entdeckte Ceilith die Hiebwunde an meinem Arm, und geschäftig eilte sie hinaus, um Wasser für mein Bad holen zu lassen.

Nur kurze Zeit später streckte ich meine verspannten Glieder dankbar in dem warmen Wasser aus und versuchte, wenigstens für einen Moment nicht über die vergangenen Stunden nachzudenken.

Kurz bevor ich in der Wanne einschlief, scheuchte Ceilith mich in mein Bett, auf dem ich sofort in einen tiefen, erschöpften Schlaf fiel.
Als ich wieder erwachte, stand die Sonne bereits fast im Zenit, und ich fühlte mich erstaunlich frisch und erholt. Und hungrig.
Dankbar verzehrte ich das einfache Mahl aus Brot und Käse, das Ceilith mir in weiser Voraussicht bereitgestellt hatte, und dann machte ich mich auf zum Medela; dem Gebäude, in das die Kranken und Verwundeten gebracht wurden.

Als ich die große, zweigeschossige Halle betrat, hielt ich abrupt auf der Schwelle inne.
Ich hatte das Gefühl, gegen eine Wand aus überhitzter Luft geprallt zu sein, überlagert von dem metallischen Geruch nach Blut, dem Stöhnen und Schreien der Verwundeten und einer allgegenwärtigen Präsenz von Schmerz und Leid.
Ich rang nach Luft und machte mich an die Arbeit.

Bereits nach kürzester Zeit hatte ich den Lärm um mich herum ausgeblendet und konzentrierte mich ganz auf das, was ich gerade tat, und so fiel mir auch zunächst die plötzlich einkehrende Stille nicht auf.
Erst als es in der Halle so ruhig war, dass man das Atmen der Verwundeten hören konnte, nahm ich die Veränderung wahr und sah auf.
Ausnahmslos jeder blickte zur Tür, und es herrschte eine gespannte Erwartung.

Als ich mich umwandte, sah ich Artair auf der Schwelle stehen, der sich mit einem raschen Blick durch die Halle mit der Lage vertraut machte.
Dann straffte er die Schultern und schloss die Augen, und ich konnte seine Konzentration spüren – und jene andere Kraft, die die Halle plötzlich wie eine leuchtende Woge zu fluten und sie zu erhellen schien.
Durch sie hatte jeder der Anwesenden das Gefühl, dass nur durch Artairs Erscheinen etwas anders geworden war. Besser. Dass das Atmen plötzlich leichter fiel.
Aber ich war die Einzige hier, die diese Kraft wirklich sehen konnte. Und ich war auch die Einzige, die wusste, was es ihn kostete, hier zu sein.

„Was machen wir hier?", flüsterte ich Brayan zu.
Wir standen in einer winzigen Kammer in einer ebenso winzigen Kate.
„Wir begleiten Artair", flüsterte er zurück.
Ich rollte mit den Augen. „Das weiß ich doch. Ich meine, was macht Artair hier? Warum will Mártainn, dass er ab sofort Melisande bei ihren Krankenbesuchen begleitet?"
„Na, weil er doch die Gabe hat und üben muss."
„Die Gabe?" Ich sah Brayan verständnislos an. „Welche Gabe?"
„Na, die Gabe eben. Die Gabe der Könige. Die, an der man die Könige erkennt."
„Was ist das für eine Gabe?"
Brayan musterte mich verwundert, bis ihm klar wurde, dass ich wirklich keine Ahnung hatte, was er meinte.
„Er kann Menschen helfen, gesund zu werden. Und manchmal auch Tieren. Allem, was lebt."
Ich war sprachlos und richtete meine Aufmerksamkeit auf Artair.

Der stand neben dem Lager der alten Frau und hielt ihre Hand in der seinen.
„Ich kann es nicht genau sehen", sagte er zu Melisande.
„Das macht nichts", erwiderte diese. „Je mehr Übung Ihr habt, umso besser wird es gehen. Versucht, es genau anzusehen."
Artair schloss die Augen und konzentrierte sich. Dann zuckte er zusammen und ließ die Hand der alten Frau los.
„Es tut mir leid", murmelte er ihr zu.
„Es ist schon gut", gab diese zurück. „Ich weiß schon, was los ist. Und es macht nichts. Ich hatte ein langes, erfülltes Leben. Aber ich danke Euch von Herzen, dass Ihr gekommen seid, Herr."

Melisande musterte Artair aufmerksam. „Es ängstigt Euch, nicht wahr? Und es schmerzt auch?"
Artair senkte den Kopf und nickte.
Melisande sprach weiter. "Die Gabe ist eine unschätzbare Hilfe für Euch. Ihr wisst, dass es die erste Pflicht des Königs ist, seinem Volk zu dienen und für das Wohl all derer, die ihm anvertraut sind, zu sorgen. Das bedeutet manchmal, die Bedürfnisse anderer Menschen über die eigenen zu stellen. Aber Ihr müsst wissen, dass Ihr immer die freie Wahl habt, egal, vor welcher Entscheidung Ihr steht oder um was es geht. Ihr müsst Euch nicht gegen Euch selbst entscheiden, wenn es Euch zu viel ist oder Ihr nicht wollt."
Artair sah sie aufmerksam an, und man konnte sehen, wie es in ihm arbeitete.

Dann schloss er wieder die Augen und ergriff erneut die Hand der alten Frau, die leise und erleichtert aufseufzte und deren Züge, vom Schmerz verzerrt, sich plötzlich glätteten. Sie blickte Artair dankbar an.
„Was tut Ihr, Herr?"
Melisande klang alarmiert. Aber in diesem Augenblick stöhnte Artair auf und ließ die Hand los.

Kreidebleich taumelte er, stützte sich gegen die Wand und rannte dann aus der Hütte.
Brayan und ich folgten ihm rasch und konnten gerade noch sehen, wie er Richtung Fluss rannte; und wir beeilten uns, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Als wir ihn erreichten, kauerte er zusammengekrümmt am Flussufer.

„Artair", sagte ich verzagt, „Was ist denn mit Dir?"
„Mir ist übel", keuchte er.
Er sah auf, und ich erschrak über seinen Gesichtsausdruck.
„Sie war so krank, und ich konnte ihr gar nicht helfen", stieß er heftig hervor, und es klang verzweifelt. „Meine Gabe hat überhaupt nichts genutzt, sie wird bald sterben. Ich konnte ihr nur für einen Moment die Schmerzen abnehmen."
Er senkte den Kopf. „Aber selbst das hab´ ich nicht lange ausgehalten. Es hat so weh getan", flüsterte er.
Und dann brach er in Tränen aus. Brayan und ich blickten uns erschrocken an. Artair weinte nie. Niemals.

Ich setzte mich neben ihn ins Gras, zog ihn auf meinen Schoß und streichelte sein Haar, und Brayan setzte sich neben uns.
Eine Weile lang konnte man nur Artairs Schluchzen hören. Als er etwas ruhiger wurde, fing Brayan an zu reden.

„Artair", sagte er ernst, „ich glaub´ nicht, dass es Deine Aufgabe ist, immer alle zu retten. Das geht nämlich nicht. Selbst wenn Du der König bist und die Gabe hast, wird es immer Dinge geben, gegen die keiner was machen kann. Weil es der Wille der Götter ist. Und die Götter, die stehen noch über dem König."
Artair setzte sich auf. Dieser Gedanke schien ihn etwas zu trösten.
„Manchmal wünschte ich, ich wäre kein König", sagte er niedergeschlagen.

„Und genau das ist die einzige Sache in Deinem Leben, über die Du niemals frei entscheiden kannst", hörte ich eine strenge Stimme hinter meinem Rücken, und erschrocken drehten wir uns um.
Mártainn trat auf uns zu, beugte sich über Artair und umfasste sein Kinn. Dann sah er prüfend in seine Augen und ertastete seinen Puls am Handgelenk.
„Du musst noch sehr viel lernen", sagte er, zu Artair gewandt. „Du darfst niemals – niemals, hörst Du! – die gesamten Schmerzen eines anderen Menschen auf Dich nehmen. Zum einen gehören diese Schmerzen nicht zu Dir, sondern zu ihm; sie sind ein Teil seines Schicksals und seiner Geschichte und wurden ihm und nicht Dir auferlegt. Dem musst Du Respekt zollen. Du darfst ihm einen Teil seiner Schmerzen abnehmen und es ihm leichter machen, mehr nicht. Aber Du solltest es erst wieder tun, wenn Du gelernt hast, wie Du Dich selbst schützen kannst."
Er sah Artair ernst an.

„Und zum anderen kann niemand – nicht einmal ein König, dem die Gabe verliehen wurde – die Schmerzen aller Menschen auf sich nehmen, ohne daran zu zerbrechen. Du musst einen Weg finden, Deine Pflicht zu erfüllen, ohne dass Du selbst mehr Schaden nimmst, als es nötig ist. Und zwar in allem, was Du tust."
Er nahm Artair auf den Arm, drehte sich um und entfernte sich mit ihm, und ließ Brayan und mich verwirrt zurück.

„Der König ist da!"
„Der König!"
„Artair ist gekommen!"
Das Flüstern verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Halle, und ich konnte sehen, wie die Hoffnung in die Gesichter der Männer und Frauen zurückkehrte.
Ich wusste, die Jahre und die Übung hatten Artair geholfen, seine Gabe zu beherrschen, sie zu nutzen und sich selbst dabei so gut wie möglich zu schützen.
Aber ich wusste auch, dass es nicht spurlos an ihm vorüber gehen würde.
Ich trat zu ihm, um ihm beizustehen, so gut es mir möglich war, und er lächelte mich an.
Nach jenem ersten Krankenbesuch mit Melisande hatte eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Brayan und mir bestanden, dass wir Artair niemals alleine lassen würden, wenn er Kranke besuchte oder im Medela bei den Heilern war.
Stets begleitete ihn einer von uns, obgleich ich öfter mitging, denn nach und nach erwachte mein Interesse an der Heilkunde, und schon nach kurzer Zeit war ich Melisandes eifrigste Schülerin.
In all den Jahren hatte ich wohl hunderte Male beobachtet, wie Artair mit sich und seiner Gabe rang, aber es erfüllte mich auch heute noch mit tiefer Ehrfurcht.
Einer der Heiler war zu uns getreten. „Ich bin froh, dass ihr da seid, Herr", sagte er, und Artair nickte ihm zu. Dann steuerte er zielsicheren Schrittes eine Tür am anderen Ende der Halle an.

„Nein, Herr", wandte der Heiler ein. „In dieser Kammer liegen die verletzten Cul´Dawr."
Artair blieb stehen und musterte ihn ernst. „Der am schwersten verwundete Mann liegt hinter dieser Tür dort."
Der Heiler blickte zu Boden, nicht wissend, was er erwidern sollte, und Artair setzte seinen Weg fort.

Stundenlang gingen wir von Bett zu Bett. Artair ergriff die Hand jedes Einzelnen und ließ die Kraft seiner Gabe wirken.
Während er den Verwundeten einen Teil ihrer Schmerzen abnahm, konnte ich oder einer der Heiler tun, was auch immer nötig war, und es war für die Verletzten leichter zu ertragen.
Es war nicht so, dass die Gabe jemanden einfach so wieder heilen konnte. Aber wenn man sie richtig einsetzte, konnte sie nicht nur Schmerzen lindern, sondern auch Körper und Geist auf den Weg zur Heilung führen.
Und obendrein war es Artair schon immer gegeben gewesen, die Zuneigung und Ergebenheit der Männer und Frauen, die mit ihm in die Schlacht zogen, zu gewinnen. Er kannte all seine Kämpfer beim Namen; und ein jeder von ihnen fühlte die Gewissheit, dass sein Schicksal dem König, für den er sein Leben eingesetzt hatte, nicht gleichgültig war.

So gab er den Verwundeten Mut, Hoffnung und Trost und sandte sie auf den Weg zur Genesung; und denen, für die es keine Hilfe mehr gab, nahm er die Angst.
Er hielt ihre Hand, nahm einen Teil ihrer Schmerzen auf sich und half ihnen, loszulassen, indem er ihnen das sichere Gefühl gab, dass das, was nun kommen würde, etwas Gutes war; und jeder von ihnen starb mit einem Ausdruck tiefen Friedens auf dem Gesicht.
Aber mit jedem, der die Welt verließ, wurde Artairs Gesicht etwas grauer und müder.

Als wir die Halle verließen, wurde es bereits dunkel.
Artair atmete tief die frische, reine Luft ein und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. Ich sah ihn an. Er sah schrecklich aus.

„Du solltest Dich schlafen legen", sagte ich sanft zu ihm. „Du hast die Verteidigung geplant, uns in die Schlacht geführt und stundenlang gekämpft; mit Mártainn, Dian und dem hohen Rat gesprochen und Dich dann um die Verwundeten und Sterbenden gekümmert. Du bist seit fast zwei Tagen auf den Beinen. Es reicht."
„Ich bin der König", sagte Artair einfach, „Es ist meine Aufgabe." Aber seine Erschöpfung war fast greifbar.
Er streckte sich. „Ich muss noch mit dem Hauptmann der Wache sprechen. Aber vorher gehen wir zu Megan und trinken etwas. Begleitest Du mich?"
„Gerne. Ich wette um ein halbes Schwein, dass wir Brayan dort finden."
„Woher hast Du ein halbes Schwein?"

Ich hakte mich bei ihm unter, und während wir uns zu Megan aufmachten, erzählte ich ihm von dem Verwundeten, der mir ein halbes Schwein angeboten hatte, wenn ich seiner Frau weis machen würde, dass er auf dem Schlachtfeld gefallen sei.
Artair lachte. „Und das hast Du getan?"
„Nein, natürlich nicht. Aber ich war in Versuchung. Ich kenne seine Frau."
Artair lachte wieder. „Und ein halbes Schwein ist auch nicht zu verachten."

Und während ich plauderte und er lachte, war ich froh, dass er auf andere Gedanken kam; es tat gut, sein Lachen zu hören.
Als wir Megans Taverne erreichten, sah er schon etwas besser aus.

So, das war´s dann für heute. Ich hoffe, ihr hattet Spass beim Lesen.
LG!

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