Danke Hexlein
Kapitel 2, Fortsetzung
Die ersten Strahlen der morgendlichen Sonne bahnten sich ihren Weg durch die Gardinen, erhellten das eben noch im Dunkeln gelegene kleine Zimmer, malten ihre allmorgendlichen Kreise auf die hochwertigen Fliesen und machten das unermüdliche Spiel der Staubpartikel sichtbar, die durch den Raum tanzten zu einer nicht hörbaren Musik, wie Paare auf einem Ball.
Von all diesem bekam Louis nichts mit, der die Augen verschlossen hatte und dem Gesang der Vögel lauschte. Vögel, die so ganz anders klangen, als jene, die er aus Europa kannte. Stimmen die er nicht zuordnen konnte. Irgendwie beruhigte es ihn, dass auch hier die Vögel zwitscherten, zwar anders, aber doch so verlässlich. Egal wo er war, das Gezwitscher der Vögel begleitete ihn, diente überall als Hintergrundmusik für sein Leben, seine Existenz, war eine Konstante in all dem Durcheinander und all dem Wahn. Fast ein Rettungsanker.
Louis schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Der Boden unter seinen Füßen war noch kühl, aber bald würde die Kraft der Sonne stärker werden und ihn erwärmen, so wie sie es jeden Tag tat. Dann tat man gut daran, sich im Schatten aufzuhalten und sich nicht zu sehr anzustrengen, bis endlich die kühleren Abendstunden herein brachen und mit ihnen endlich der gleißende Feuerball hinter den Hügeln im Westen verschwand.
Jeden Tag aufs Neue.
Louis fiel es schwer, sich an die Hitze zu gewöhnen. Noch nie hatte er Temperaturen jenseits der 25-Grad Marke sehr zu schätzen gewusst, in seiner Heimat Irland war das aber kein Problem gewesen. Immer war er derjenige gewesen, der gut Lachen gehabt hatte, wenn andere fröstelten, aber nun setzte ihm die namibische Sonne stark zu und er mochte sich keine Gedanken darüber machen, wie er mit seinem Kreislauf in einem weniger gut klimatisiertem Haus zu Recht kommen sollte.
Er hatte sich fast an die Hirse und das getrocknete Antilopenfleisch, das sie Biltong nannten, gewöhnt, aber trotzdem fiel Louis das Essen an jenem Morgen ungewöhnlich schwer. Oscars Frau Florence war eine ausgezeichnete Köchin - wenn er das richtig einschätzen konnte – und um sie nicht zu verärgern, zwang er einige Bissen des Breis und des Fleisches herunter. Er hatte den Blick gesenkt, achtete peinlich genau darauf, weder Oscar noch seiner Frau oder der Bediensteten in die Augen zu sehen. Ja, er schämte sich. Schämte sich, weil sie ihn rauswarfen, weil er ihnen zur Last gefallen war, sie sogar in nicht zu unterschätzende Gefahr brachte. Schämte sich, dass er nicht fähig war, seinen Absturz selbst aufzufangen, dass er so hilflos war, auf sie angewiesen. Schämte sich für all das, was er getan hatte. Für all das, was er hatte tun müssen.
Es war zwanzig nach acht, als Kojo an der Tür klingelte, ein kleiner, drahtiger Mann mittleren Alters und einer jener Freunde Oscars, den Louis noch nie ein Wort hatte sprechen hören, war es nun, weil er sich dessen nicht getraute oder weil Worte in diesem Land einen ganz anderen Stellenwert hatten, oft einfach überflüssig waren.
„Die Farm liegt etwa drei Stunden Fahrt entfernt“, sagte Oscar, während er einen abgegriffenen Lederkoffer zur Tür schleppte. „Der Mann, der dich bei seiner Familie aufnehmen wird, heißt Amadi. Spar dir Sprüche über seine konservative Art oder seinen Lebensstil. Spar dir am Besten sämtliches Reden. Sei einfach nur… - einfach.“
Louis fixierte Oscars Schuh, riss sich dann aber doch zusammen und sah ihm in die Augen. In Oscars Stirn hatte sich eine tiefe Falte gegraben, die Louis nicht deuten konnte, aber wahrscheinlich wollte er es auch gar nicht.
„Danke für alles…“, wollte er beginnen, aber Oscar winkte ab.
„Bete, dass sie dicht nicht finden. Wenn es noch einen Platz auf der Welt gibt, an dem du sicher bist, dann auf dieser Farm, bei diesen Leuten.“
Kojo griff nach dem Koffer und lud ihn in den Jeep, der vor der Haustür wartete. Warme, trockene Luft wehte herein und Louis hatte jetzt schon das Gefühl, nicht mehr genügend Sauerstoff zu bekommen.
Oscar steckte Kojo zwei Scheine zu, der ohne ein Wort wieder zum Wagen ging.
„Ich werde niemals vergessen, was du…“, versuchte Louis es noch einmal, aber Oscar war niemand, den Danksagungen interessierten.
„Mach es gut, Louis“, schnitt er ihm das Wort ab und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. „Mach es einfach gut. Du weißt, dass es nicht noch eine Chance geben wird.“
Louis nickte und biss sich auf die Innenseite der Wange. Ja, er wusste es. Er wusste es nur allzu gut.
Als er in den Jeep stieg, klebte sein Hemd bereits an seinem Oberkörper, aber er schob es auf die Aufregung. Innerlich angespannt ließ er sich in den Sitz fallen.
„Du wirst mehr geben müssen, als dein Bestes!“, rief Oscar ihm aus der Haustür zu. Seine grauen Haare wurden von dem Wind zurückgeweht, was ihn plötzlich sehr alt aussehen ließ.
„Und Louis, denk daran: Komm nie wieder hier her zurück!“
-
Die Fahrt war beschwerlicher, als er angenommen hatte. Das Gelände wurde zunehmend unwegsamer und mit fortschreitender Uhrzeit nahm auch die Kraft der Sonne über Namibia zu, die mittlerweile hoch oben am Himmel stand und die Luft über der Wüste zum Flimmern brachte. Louis wusste nicht, wie spät es war, aber er würde sich das Umgehen mit Uhrzeiten wahrscheinlich sowieso abgewöhnen müssen. Er glaubte nicht, dass die traditionellen Einwohner des afrikanischen Landes großen Wert auf Zeiten legten. Ob sie überhaupt Uhren kannten? Wieso wusste er so verdammt wenig über dieses Land?
Er warf einen Seitenblick zu Kojo, dessen Mundwinkel die ganze Zeit von einem kleinen Lächeln umspielt wurden und dem die Hitze nicht auszumachen schien.
Absolut lässig und souverän lenkte er den alten Jeep über die trockenen Wege am Rande der Namib, vorbei an Sanddünen, Kuduherden und verdorrten Pflanzen – und scheinbar immer weiter in die Einsamkeit hinein.
„Leben viele Menschen im Süden?“, versuchte Louis es mit Smalltalk. Er war des Schweigens satt, des ewigen Wartens auf all die Antworten seiner ungestellten Fragen. Er konnte nicht einschätzen, was ihn erwartete, hatte keine Ahnung, wie die Menschen waren, zu denen er gebracht wurde, wusste nicht einmal, welche Sprache sie sprachen. Ob sie überhaupt schon jemals einen Weißen gesehen hatten? Was sollte er machen, wenn sie ihn gleich fort jagten?
„Nur Wenige“, antwortete Kojo nach einer längeren Pause, in der Louis sich schon dafür geschämt hatte, dass er so selbstverständlichen von deutschen Sprachkenntnissen seines Fahrers ausgegangen war.
„Wir fahren in die Region Hardap, da leben etwas mehr Menschen als im äußersten Süden, weil dort noch Viehzucht möglich ist. Sie haben Wasserreserven durch einen Damm. Aber wir fahren in ein abgelegenes Gebiet. Amadis Farm liegt weit entfernt von der Nächsten. Dort wird dich niemand suchen kommen.“
Louis seufzte. Langsam glaubte er eher, dass er an Vereinsamung oder der Hitze sterben würde als durch die Hand seiner Verfolger.
„Kennst du diesen Amadi?“
„Nein. Ist ein Freund von Oscar. Ist ihm einen Gefallen schuldig.“ Kojo sprach fast akzentfrei Deutsch und Louis wunderte sich, warum Oscar nicht mit ihm geredet hatte.
„Weißt du, wann wir ungefähr ankommen?“
„Nicht mehr lange.“
Louis wusste mit Kojos Antwort nicht viel anzufangen, lehnte sich aber in seinem Sitz zurück, was ihm eine Feder unter das Schulterblatt drückte und schwieg. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Kojo nicht mit ihm Reden wollte. Vielleicht war es, weil er ein Weißer war, vielleicht war es einfach die andere Mentalität. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein.
Sie hatten einen Fluss überquert und waren an einigen verfallenen Hütten vorbei gefahren, als endlich Amadis Farm vor ihnen auftauchte. Es handelte sich um zwei kleine Holzhäuser, vor denen Gemüse angebaut war und Ziegen grasten. Louis Annahme, dass der Jeep, mit dem sie gefahren waren, den höchst möglichen Verfallensgrad erreicht hatte, wurde mit einem Blick auf den neben einer der Holzhütten stehenden Wagens revidiert. Auch der Rest der Farm wirkte auf den ersten Blick ungepflegt und unaufgeräumt.
Sie war noch kleiner, als er gedacht hatte und bis auf einige knorrige Bäume, die die Umgebung schmückten, wurde die gesamte Umgebung von einer hügeligen grau-gelben Leere bestimmt. In keine Himmelsrichtung war bis zum Horizont auch nur ein Häuschen zu sehen, nur flimmernde Luftschichten, die sich über den sandig-steinigen Boden erstreckten, machten das aus dem Nichts bestehende Landschaftsbild aus.
Hier war also das Nirgendwo. Er war angekommen. Und es war schlimmer, als in seinen Albträumen.