„Eigentlich solltest du heute nicht arbeiten gehen, du siehst immer noch abgespannt aus. Ich kenne einen Ort, der dir gefallen wird. Hast du Lust, mich dorthin zu begleiten?“
Penny ließ fast ihr Croissant fallen. „Das kann ich nicht. Ich muss arbeiten, ich habe in letzter Zeit nicht so viel geschafft, wie ich wollte.“
„Nein, du musst nicht arbeiten. Eigentlich bist du krank.“
Sie legte das Croissant auf den Teller, lehnte sich zurück und musterte Erec ernst. „Für dich ist immer alles so einfach. ‚Ich muss nicht arbeiten.‘ Okay, das sagst du. Du bist der Boss, du darfst das. Aber wenn du und ich heute schon wieder gemeinsam mit Abwesenheit glänzen, möchte ich die Blicke von Rachel morgen nicht sehen. Du bist bald wieder weg. Aber ich muss das aushalten.
Nein, es tut mir leid, aber ich möchte heute nicht mit dir dorthin.“
Erec sah sie nachdenklich an. „Ach ja, Rachel... Okay, das verstehe ich. Dann am Wochenende? Montag muss ich wieder zurück, aber wir könnten am Wochenende dorthin fahren. Sag doch ja. Ich hab was wiedergutzumachen.“
Penny fiel kein Einwand mehr ein, also nickte sie. „Kriegst du eigentlich immer, was du willst?“
Er lachte. „Ja, meistens. Meine Angebote sind eben unwiderstehlich.“
„Und? Wie gefällt es dir?“
Ein wohliger Seufzer entrang sich ihr, als sie in das warme Wasser der Quelle glitt. „Es ist einfach wunderschön hier, du verwöhnst mich. Mir fehlt für so ein luxuriöses Vergnügen das nötige Kleingeld.“
„Da ist es doch ein netter Umstand, dass sich dein neuer bester Freund rein zufällig darüber keine Sorgen machen muss. Und du vergisst bitte den Gedanken an Geld ebenfalls und genießt es einfach, okay?“
Penny schloss halb die Augen. „Wie soll man denn das nicht genießen? Das ist genau das, was ich gebraucht habe. Den ganzen Tag entspannen, es ist ein Traum. Schade, dass es nicht gleich um die Ecke ist. Wie hast du das überhaupt gefunden?“
„Ach, so schwer ist das gar nicht. In den Kreisen derer, die es sich leisten können, spricht sich so etwas schnell herum. Und man weiß, dass ich immer auf der Suche nach netten Locations bin.“
Eine Stunde später räkelte sie sich und stand dann auf. „Ich bin schon ganz schrumpelig, lass uns gehen.“
Und dann geschah alles sehr schnell. Auf den glatten, steinernen Stufen glitt Penny aus und strauchelte. Erec packte sie fest am Arm, um zu verhindern, dass sie stürzte. Er zog sie hoch, und sie fand ihr Gleichgewicht wieder - aber im gleichen Moment versteinerte sie.
Er konnte spüren, wie sie sich versteifte, wie sie innerlich erstarb. Ihre Augen waren starr auf einen Punkt direkt vor ihr gerichtet und ihre Angst war förmlich greifbar. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht reden, sie nahm nichts um sie herum mehr wahr.
Erec ließ sie sofort los. Er musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht beschützend den Arm um sie zu legen, aber ihm war klar, dass das keine gute Idee war. Trotzdem blieb er dicht neben ihr stehen, um zur Stelle zu sein, falls sie zusammenbrach. Für unwahrscheinlich hielt er das nicht. Es war nicht zu übersehen, dass sie am ganzen Körper zitterte.
„Penny“, sagte er leise. „Komm, du musst hier weg. Es wird kalt. Du bist nass, du wirst dich erkälten.“ Sie reagierte nicht.
Er schloss für einen Moment die Augen und schien auf etwas zu lauschen. Dann sagte er, lauter, befehlend: „Penny, komm jetzt mit.“ Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie setzte sich in Bewegung und folgte ihm in ihr Zimmer. „Geh ins Bad, trockne dich ab und zieh dir etwas an. Dann legst du dich hin.“ Sie tat, was er verlangte.
Minuten später lag sie auf dem Bett und starrte mit großen Augen ins Leere. Er saß eine Weile stumm neben ihr, und als sie sich endlich regte, sah er ihr in die Augen. „Willst du, dass ich hier bleibe?“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Er stand auf und ging zur Tür. „Erec?“ Ihre Stimme war kaum zu hören.
„Ja?“ „Es... es ist so hell hier. Kannst du es dunkel machen?“
Er schloss die Rollos und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Ich komme bald wieder, okay?“ Sie rollte sich in einer Embryohaltung zusammen und zog die Decke über den Kopf. Erec warf noch einen letzten Blick auf sie und verließ still den Raum.
Eine gute Stunde später war er wieder da und klopfte an die Tür. Von drinnen kam keine Reaktion. Er trat leise ein und ging langsam auf sie zu. Sie lag auf dem Rücken und sah wieder ins Nichts, sie hatte geweint.
„Penny? Geht es dir besser? Ich möchte, dass du mitkommst. Du musst nicht reden, niemand wird dich ansprechen. Du sollst nur nicht hier allein sein. Zieh dir etwas Nettes an, es ist eine Zeremonie. Bitte.“
Penny schloss die Augen und seufzte, doch sie setzte sich auf und ging ins Bad. Es dauerte eine Weile, bis sie fertig angezogen zurückkam.
„Du siehst bezaubernd aus.“ Erec reichte ihr seinen Arm, den sie zögernd nahm, und geleitete sie in ein kleines Nebengebäude. Eine traditionell gekleidete Japanerin wies ihnen ihre Plätze zu und erklärte ihnen, dass die Teezeremonie in völligem Schweigen durchgeführt wurde. Sie sollten sich entspannen, den Tee genießen und inneren Frieden finden. Dann machte sie sich daran, mit gemessenen und sehr anmutigen Bewegungen den Tee zu bereiten.
Anfangs war Penny völlig verkrampft, es war deutlich zu spüren, wie angespannt sie war. Doch allmählich entspannte sich ihr Körper, und nach der ersten Schale Tee kehrte auch ihr Blick ins Hier und Jetzt zurück. Erec atmete erleichtert auf. Er war sich nicht im Geringsten sicher gewesen, ob es funktionieren würde, oder ob er sie damit, dass er sie zwang, sich in Gesellschaft zu begeben, noch mehr in die Enge getrieben hätte. Aber so war es gut. Sie hatte die Starre überwunden und war wieder aufnahmefähig. Und sie war nicht allein.
Er würde niemals mit Macht versuchen, in ihre Innenwelten einzudringen, aber auch so wusste er mittlerweile genug, um sich zumindest einen Teil zusammenreimen zu können. Für einen Moment war etwas vor ihren Augen erschienen, und die Vision war so stark, dass auch er sie sehen konnte. Ein nicht mehr junger Weißer, stämmig, ungepflegt und mit vor Wut verzerrtem Gesicht.
Nach der Zeremonie gingen sie noch ein wenig durch den Garten, der im Mondlicht und der milden Abendluft zauberhaft war.
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Erec? Es tut mir leid.“ Sie sah zu Boden.
Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um. „Es tut dir leid? Dir tut es leid? Penny, wer auch immer das ist, dem es leid tun sollte, du bist es ganz bestimmt nicht. Möchtest du darüber reden?“
Sie schüttelte erschrocken den Kopf. „Nein. Nein, ich... ich schäme mich so. Du solltest das nicht sehen. Was wirst du jetzt von mir denken?“
Aus einem Impuls heraus berührte er sanft ihre Schulter. Sie zuckte zusammen, aber ließ es geschehen, „Nein, Penny, so darfst du nicht denken. Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Und ich werde nicht zulassen, dass dir jemand etwas antut.“
Sie wandte sich ab. Ihre Stimme war bitter. „Versprich nichts, was du nicht halten kannst.“
Er folgte ihr schweigend, verabschiedete sich vor ihrer Tür von ihr und ging in sein Zimmer, während sie im Bad verschwand. Lange sah sie in den Spiegel, versuchte, sich mit seinen Augen zu sehen, und seufzte.
Ein seltsames Gefühl überkam sie, das sie nicht zu deuten wusste. Sie lauschte nach draußen, ob sie Schritte hörte, doch es blieb still. Wieder betrachtete sie ihr Spiegelbild, und das Gefühl wurde stärker.
Langsam, fast unmerklich veränderte sich das Bild. Ein Hauch Rot erschien in ihrem Haar, ihre Gesichtszüge veränderten sich. Die Wände ihres Zimmers verschwammen und hinterließen die Ahnung von etwas Fremdem. Sie stand wie in Trance und beobachtete ihr zerfließendes Gesicht.
Endlich löste sich der Bann, der sie gefangen hielt. Sie war wieder in der Lage, sich zu rühren, und schrak zusammen. Die Frau im Spiegel war sie, niemand anderes. Sie musste geträumt haben.