EPILOG
„Unsere Generation hatte keine große Depression, keinen Krieg. Unser Krieg ist spirituell. Unsere Depression ist unser Leben.“ (Zitat: Fight Club)
Samaras Sicht:
Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass es kurz vor um acht ist; bald wird es anfangen zu dämmern und die Dunkelheit über mich einbrechen. Ich blicke um mich. Die Weiten des Stadtparks liegen endlich wieder vor mir. Ich sauge die klare Luft um mich ein, die noch nicht von irgendwelchen Abgasen verpestet worden war. Meine Aufmerksamkeit wird auf den kleinen Teich am Rande gelenkt, als ein Fisch in die Luft springt und mich damit erschreckt.

Viel hat sich hier nicht verändert. Die Schaukeln stehen nicht mehr. Alles andere ist noch immer so wie früher. Ich fühle mich mit einem Male wohl. Doch dieses warme, beinahe unbekannt gewordene Gefühl ganz tief in meinem Inneren, wird sofort von der Erinnerung zerstört: Dass letzte Mal, dass ich mich in diesem Park befunden hatte, war mit Vater. Es war sicher ein Jahrzehnt her. Ich entsinne mich nicht mehr genau an die Zeit, aber alles war sicher nahezu ein Jahrzehnt her. Die Tatsache, dass ich beide meiner Elternteile verloren hatte – von einer Sekunde auf die Nächste. Die Tatsache, dass ich vor Einsamkeit erdrückt wurde. Das gottverdammte Waisenhaus hatte mich vor rund zehn Jahren aufgenommen und in psychiatrische Behandlung gesteckt. „Damit alles wieder gut wird, kleine Samara.“, lautete das Versprechen, welches sie mir gaben. Ich hatte ihnen nie Glauben geschenkt – mit Recht! Auch ich hatte Bedürfnisse und Wünsche. Doch mit bitterem Beigeschmack wird mir klar, dass diese sich wohl nie erfüllen würden: Ich bin für ein Leben lang traumatisiert. Und ein Leben kann wahrhaft lang sein!

Mir stockt er Atmen und ich spüre, wie sich meine Augen das erste Mal seit sehr langer Zeit mit Tränen füllen. Und ich lasse es zu, dass sie fließen. Warum ist es mir vergönnt, mein Leben „normal“ zu leben? Frühzeitig hatte ich angefangen Pläne zu schmieden. Ich entsinne mich, wie ich verbotenerweise immer an Vaters Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer saß und mir ausmalte, was ich später alles mit meinem Leben anfangen würde. Und nun stehe ich hier, am Anfang. Nur ist so viel seitdem geschehen. Ich vermag es genauso wenig wie jeder andere auch die Dinge aus der Vergangenheit anders zu gestalten. Doch das mir nicht einmal das Recht gebührt, meine eigene Zukunft in die Hand zu nehmen, lässt mich schlichtweg verzweifeln. Ich bin ein Niemand.
Meine Augen schweifen unruhig über die gesamte Umgebung, bis sie sich an der Bank festhalten, auf welcher meine Eltern an dem Tag saßen, als hier im Park das Taxophon läutete.

Der Tag, an dem meiner Auffassung nach alles begann. Meine Eltern… Die schmerzliche Erinnerung hängt an mir wie an einem schwarzen Gummiband: Unglaublich weit entfernt in einem Moment, doch plötzlich und gänzlich ohne Vorwarnung – peng! – knallt sie mit voller Wucht zu mir zurück und trifft mich wie ein Schlag, der mir den sowieso schon wankenden Boden unter den Füßen endgültig entreißt.
Ich weiß nicht wirklich, was in der Nacht vor so unendlich vielen Jahren bei uns zu Hause passiert war, als ich bei meiner Freundin Luna übernachtete. Seit der Geschichte mit der Grube waren wir unzertrennlich. Als mich am nächsten Tag niemand zur verabredeten Zeit bei ihr zu Hause abholte fuhr mich zu späterer Stunde ihre Mutter. Doch ich entsinne mich, dass mir niemand die Tür öffnete, sodass ich den Schlüssel unter dem Blumentopf auf der Veranda hervorholte. Ich weiß noch, wie ich kopfübergebeugt dachte, dass das echt das schlechteste Versteck ist, welches man sich vorstellen kann. Der Schlüssel drehte im Schloss und der Griff rutschte mir aus der Hand.

Als die Tür auf glitt, stieg mir ein modriger Geruch in die Nase. Ich schaltete erst im nächsten Augenblick. Das Bild, welches sich mir nun eröffnete, werde ich niemals wieder vergessen können. Wenn ich nur daran denke, merke ich, wie mir kleine Bröckchen den Hals hinaufsteigen und an die Freiheit wollen. Die Kinnlade klappte mir nach unten, als ich meinen Vater erblickte, der blutüberströmt und total verquer auf dem Korridorboden lag.

Ich wollte wegrennen, doch ich konnte nicht. Meine Beine waren wie in einem Alptraum gelähmt. Ich schrie aus Leibeskräften und Stunden schienen vergangen zu sein, bis Lunas Mutter zu mir geeilt kam. Ich realisierte kaum, dass sie da war. Nur ein paar Sekunden später schon stand ein Arzt neben mir und zerrte mich in einen Krankenwagen. In einem anderen wurde mein Vater auf einer Pritsche mit lautem Martinshorn weggefahren. Luna und ihre Mutter saßen neben mir und legten eine Wärmedecke um mich. Ich bekam das alles nur am Rande mit. Viel zu sehr war ich mit den Gedanken beschäftigt, dass alles meine Schuld war. Warum war ich an dem Abend nicht zu Hause geblieben? Vater wollte zwar eigentlich sowieso weg, aber ich hätte ihn auch überreden können, dass wir zusammen ins Kino gehen hätten können. Es war doch eigentlich meine Aufgabe, ihn von Mutters Verschwinden abzulenken! Ja, es war meine Schuld. Das wurde mir in dem Moment bewusst.

Am scheinbar nächsten Tag wachte ich im Krankenhaus auf. Hier war ich doch schon einmal gewesen. Ich hörte, wie draußen geflüstert wurde. Brocken von „unter Schock“ und „jetzt ist sie ganz alleine“ konnte ich aufschnappen. Ich weinte das letzte Mal für lange Zeit leise vor mich hin.
Wenige Stunden später schon saß ich auf der Rückbank eines Autos hinter einer mir total unsympathischen Frau. „Freust du dich schon auf dein neues zu Hause, Kind?“, fragte sie mit betonter Freundlichkeit in der Stimme. Es war egal, wie ich ihr geantwortet hätte. Ich hatte weder Kraft noch Chance etwas zu ändern. Ich war noch ein Kind und trotzdem schon müde vom Leben. Wir erreichten ein großes, graues Haus.

„Hier wirst du sicher viele neue Freunde finden.“, sagte die große unfreundliche Frau zu mir, als sie meinen Koffer nahm um mit mir mein neues Zimmer zu beziehen. Und wenn ich gar nicht wollte?
Die Tage wurden immer länger. Zu Anfang durfte ich sogar noch einmal im Monat Luna besuchen oder sie mich, aber irgendwann meldete auch sie sich nicht mehr. Ihre Mutter hatte ihr wohl den Umgang mit mir verboten, weil ich ein psychisches Problem hatte und Lunas Mutter ängstlich war, dass auch ihr Kind Schaden davon tragen konnte.

Doch all das ließ mich kalt. Ich fand auch nie Freunde. Irrelevant. Alles zog an mir vorbei und die Farben verblassten allmählich. Ich vergaß meinen eigenen Geburtstag und die Jahre zogen an mir vorbei, ohne dass ich es wirklich mitbekam. Ich wuchs heran im alltäglichen Trott bis mir irgendwann die Frau, die mich einst hierher gebracht hatte, scheinbar keinen Tag gealtert, sagte: „Viel Spaß im weiteren Leben, junge Frau.“ Und ich ging, ohne etwas mitzunehmen und ohne mich auch nur einmal umzudrehen.

Und nun stehe ich hier im Stadtpark. Inzwischen ist es dunkel geworden und ich weiß noch immer nicht wohin. Ich habe niemanden mehr. Die Gedanken fressen mich bald auf. Mein Kopf ist schwer. Ich brauche endlich Ruhe!
Den Blick von der Bank abgewendet, begebe ich mich in den hinteren Teil des Parks, wo früher immer ein Lagerfeuer war. Ich erinnere mich, dass ich einmal dort stand und in das Feuer starrte. Es war wenige Tage oder Wochen nach dem seltsamen verschwinden von Mutter. Und plötzlich ist eine Frau mit schnellem Schritt an mir vorbeigezogen. Meine Hand hätte ich dafür ins Feuer gelegt, dass es Mutter war!
Die Tische und Stühle und der alte rostige Grill stehen noch immer hier. Ich lasse mich also nieder und stütze meinen Kopf verzweifelt auf die Hände.
Ich muss eingeschlafen sein. Nur wenige Minuten aber, denn plötzlich steht ein Mädchen neben mir und rüttelt mich auf. „Hey, alles in Ordnung?“, lächelt sie mich an. Ungewollt presse ich kräftig Luft aus meinen Lungen. „Luna…“

„Unsere Generation hatte keine große Depression, keinen Krieg. Unser Krieg ist spirituell. Unsere Depression ist unser Leben.“ (Zitat: Fight Club)
Samaras Sicht:
Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass es kurz vor um acht ist; bald wird es anfangen zu dämmern und die Dunkelheit über mich einbrechen. Ich blicke um mich. Die Weiten des Stadtparks liegen endlich wieder vor mir. Ich sauge die klare Luft um mich ein, die noch nicht von irgendwelchen Abgasen verpestet worden war. Meine Aufmerksamkeit wird auf den kleinen Teich am Rande gelenkt, als ein Fisch in die Luft springt und mich damit erschreckt.

Viel hat sich hier nicht verändert. Die Schaukeln stehen nicht mehr. Alles andere ist noch immer so wie früher. Ich fühle mich mit einem Male wohl. Doch dieses warme, beinahe unbekannt gewordene Gefühl ganz tief in meinem Inneren, wird sofort von der Erinnerung zerstört: Dass letzte Mal, dass ich mich in diesem Park befunden hatte, war mit Vater. Es war sicher ein Jahrzehnt her. Ich entsinne mich nicht mehr genau an die Zeit, aber alles war sicher nahezu ein Jahrzehnt her. Die Tatsache, dass ich beide meiner Elternteile verloren hatte – von einer Sekunde auf die Nächste. Die Tatsache, dass ich vor Einsamkeit erdrückt wurde. Das gottverdammte Waisenhaus hatte mich vor rund zehn Jahren aufgenommen und in psychiatrische Behandlung gesteckt. „Damit alles wieder gut wird, kleine Samara.“, lautete das Versprechen, welches sie mir gaben. Ich hatte ihnen nie Glauben geschenkt – mit Recht! Auch ich hatte Bedürfnisse und Wünsche. Doch mit bitterem Beigeschmack wird mir klar, dass diese sich wohl nie erfüllen würden: Ich bin für ein Leben lang traumatisiert. Und ein Leben kann wahrhaft lang sein!

Mir stockt er Atmen und ich spüre, wie sich meine Augen das erste Mal seit sehr langer Zeit mit Tränen füllen. Und ich lasse es zu, dass sie fließen. Warum ist es mir vergönnt, mein Leben „normal“ zu leben? Frühzeitig hatte ich angefangen Pläne zu schmieden. Ich entsinne mich, wie ich verbotenerweise immer an Vaters Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer saß und mir ausmalte, was ich später alles mit meinem Leben anfangen würde. Und nun stehe ich hier, am Anfang. Nur ist so viel seitdem geschehen. Ich vermag es genauso wenig wie jeder andere auch die Dinge aus der Vergangenheit anders zu gestalten. Doch das mir nicht einmal das Recht gebührt, meine eigene Zukunft in die Hand zu nehmen, lässt mich schlichtweg verzweifeln. Ich bin ein Niemand.
Meine Augen schweifen unruhig über die gesamte Umgebung, bis sie sich an der Bank festhalten, auf welcher meine Eltern an dem Tag saßen, als hier im Park das Taxophon läutete.

Der Tag, an dem meiner Auffassung nach alles begann. Meine Eltern… Die schmerzliche Erinnerung hängt an mir wie an einem schwarzen Gummiband: Unglaublich weit entfernt in einem Moment, doch plötzlich und gänzlich ohne Vorwarnung – peng! – knallt sie mit voller Wucht zu mir zurück und trifft mich wie ein Schlag, der mir den sowieso schon wankenden Boden unter den Füßen endgültig entreißt.
Ich weiß nicht wirklich, was in der Nacht vor so unendlich vielen Jahren bei uns zu Hause passiert war, als ich bei meiner Freundin Luna übernachtete. Seit der Geschichte mit der Grube waren wir unzertrennlich. Als mich am nächsten Tag niemand zur verabredeten Zeit bei ihr zu Hause abholte fuhr mich zu späterer Stunde ihre Mutter. Doch ich entsinne mich, dass mir niemand die Tür öffnete, sodass ich den Schlüssel unter dem Blumentopf auf der Veranda hervorholte. Ich weiß noch, wie ich kopfübergebeugt dachte, dass das echt das schlechteste Versteck ist, welches man sich vorstellen kann. Der Schlüssel drehte im Schloss und der Griff rutschte mir aus der Hand.

Als die Tür auf glitt, stieg mir ein modriger Geruch in die Nase. Ich schaltete erst im nächsten Augenblick. Das Bild, welches sich mir nun eröffnete, werde ich niemals wieder vergessen können. Wenn ich nur daran denke, merke ich, wie mir kleine Bröckchen den Hals hinaufsteigen und an die Freiheit wollen. Die Kinnlade klappte mir nach unten, als ich meinen Vater erblickte, der blutüberströmt und total verquer auf dem Korridorboden lag.

Ich wollte wegrennen, doch ich konnte nicht. Meine Beine waren wie in einem Alptraum gelähmt. Ich schrie aus Leibeskräften und Stunden schienen vergangen zu sein, bis Lunas Mutter zu mir geeilt kam. Ich realisierte kaum, dass sie da war. Nur ein paar Sekunden später schon stand ein Arzt neben mir und zerrte mich in einen Krankenwagen. In einem anderen wurde mein Vater auf einer Pritsche mit lautem Martinshorn weggefahren. Luna und ihre Mutter saßen neben mir und legten eine Wärmedecke um mich. Ich bekam das alles nur am Rande mit. Viel zu sehr war ich mit den Gedanken beschäftigt, dass alles meine Schuld war. Warum war ich an dem Abend nicht zu Hause geblieben? Vater wollte zwar eigentlich sowieso weg, aber ich hätte ihn auch überreden können, dass wir zusammen ins Kino gehen hätten können. Es war doch eigentlich meine Aufgabe, ihn von Mutters Verschwinden abzulenken! Ja, es war meine Schuld. Das wurde mir in dem Moment bewusst.

Am scheinbar nächsten Tag wachte ich im Krankenhaus auf. Hier war ich doch schon einmal gewesen. Ich hörte, wie draußen geflüstert wurde. Brocken von „unter Schock“ und „jetzt ist sie ganz alleine“ konnte ich aufschnappen. Ich weinte das letzte Mal für lange Zeit leise vor mich hin.
Wenige Stunden später schon saß ich auf der Rückbank eines Autos hinter einer mir total unsympathischen Frau. „Freust du dich schon auf dein neues zu Hause, Kind?“, fragte sie mit betonter Freundlichkeit in der Stimme. Es war egal, wie ich ihr geantwortet hätte. Ich hatte weder Kraft noch Chance etwas zu ändern. Ich war noch ein Kind und trotzdem schon müde vom Leben. Wir erreichten ein großes, graues Haus.

„Hier wirst du sicher viele neue Freunde finden.“, sagte die große unfreundliche Frau zu mir, als sie meinen Koffer nahm um mit mir mein neues Zimmer zu beziehen. Und wenn ich gar nicht wollte?
Die Tage wurden immer länger. Zu Anfang durfte ich sogar noch einmal im Monat Luna besuchen oder sie mich, aber irgendwann meldete auch sie sich nicht mehr. Ihre Mutter hatte ihr wohl den Umgang mit mir verboten, weil ich ein psychisches Problem hatte und Lunas Mutter ängstlich war, dass auch ihr Kind Schaden davon tragen konnte.

Doch all das ließ mich kalt. Ich fand auch nie Freunde. Irrelevant. Alles zog an mir vorbei und die Farben verblassten allmählich. Ich vergaß meinen eigenen Geburtstag und die Jahre zogen an mir vorbei, ohne dass ich es wirklich mitbekam. Ich wuchs heran im alltäglichen Trott bis mir irgendwann die Frau, die mich einst hierher gebracht hatte, scheinbar keinen Tag gealtert, sagte: „Viel Spaß im weiteren Leben, junge Frau.“ Und ich ging, ohne etwas mitzunehmen und ohne mich auch nur einmal umzudrehen.

Und nun stehe ich hier im Stadtpark. Inzwischen ist es dunkel geworden und ich weiß noch immer nicht wohin. Ich habe niemanden mehr. Die Gedanken fressen mich bald auf. Mein Kopf ist schwer. Ich brauche endlich Ruhe!
Den Blick von der Bank abgewendet, begebe ich mich in den hinteren Teil des Parks, wo früher immer ein Lagerfeuer war. Ich erinnere mich, dass ich einmal dort stand und in das Feuer starrte. Es war wenige Tage oder Wochen nach dem seltsamen verschwinden von Mutter. Und plötzlich ist eine Frau mit schnellem Schritt an mir vorbeigezogen. Meine Hand hätte ich dafür ins Feuer gelegt, dass es Mutter war!
Die Tische und Stühle und der alte rostige Grill stehen noch immer hier. Ich lasse mich also nieder und stütze meinen Kopf verzweifelt auf die Hände.
Ich muss eingeschlafen sein. Nur wenige Minuten aber, denn plötzlich steht ein Mädchen neben mir und rüttelt mich auf. „Hey, alles in Ordnung?“, lächelt sie mich an. Ungewollt presse ich kräftig Luft aus meinen Lungen. „Luna…“

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