Langsam drangen die Worte in meinen Verstand: Tante Petronella lebte! Die Frau, in deren Haus ich wohnte, war in Wahrheit gar nicht tot.
„Was?“ fragte ich. „Aber Burton hat doch gesagt…“
„Ja.“ Astan seufzte tief. „Es ist schwer zu begreifen, ich weiß. Tante Petronella ist ein schwieriger Fall, über den wir nur selten reden. Irgendwann sind wir dazu übergegangen, allen zu sagen, dass sie tot ist – bis wir es irgendwann beinahe selber glaubten.“
„Wo ist sie? Was ist mit ihr geschehen?“
„Sie ist im Altersheim. In einem hübschen Altersheim. Wirklich sehr nett dort.“
Astan und ich blickten wie auf Kommando zu dem Gemälde der alten Dame hinüber.
„Ich kann es kaum glauben. Warum ist sie dort?“
Er seufzte wieder. „Sie ist querschnittsgelähmt. Ein schrecklicher Reitunfall.“
Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Diese schöne und anscheinend unbeugsame Frau da auf dem Gemälde war in einem Altersheim? Das konnte ich mir nicht so recht vorstellen.
In diesem Moment traf ich einen Entschluss. Niemand konnte mich davon abhalten.
Astan verriet mir nicht ohne weiteres den Namen des Altersheims, aber letztendlich sah er ein, dass er mich von meinem Vorhaben nicht abhalten konnte. Bei der telefonischen Terminvereinbarung war ich überrascht, ich hörte eine sympathische und mir wohl bekannte Stimme am anderen Ende: Priester Jonas Pennbraker leitete mit einigen Schwestern das kleine Heim. Ich war froh, mich diesem angenehmen Zeitgenossen anvertrauen zu können. Die Geschichte, die mit Tante Petronellas vermeintlichen Tod von der Familie aufgebaut worden war, schockierte mich zutiefst. Ich versuchte Antworten bei Mr. Pennbraker zu finden, denn Astan hatte weiterhin nur herumgedruckst. Bei dem Priester stieß ich zwar nicht auf eine Wand des Schweigens, dafür aber auf Unwissen: er konnte mir nichts über Petronellas Vergangenheit erzählen.
„Wie schön, dass Sie so schnell Zeit hatten.“ begrüßte ich nun Mr. Pennbraker.
„Das ist doch selbstverständlich. Ich helfe Ihnen gern wo ich kann.“ Er presste die Lippen aufeinander.
„Hören Sie, ich will Ihnen keine Angst machen.“ sagte er an Carry und mich gewandt. „Doch ich bitte Sie: Erwarten Sie nicht zuviel!“
Betreten sah ich ihn an.
„Mrs. O’Flahatery ist eine komplizierte, ja exzentrische Persönlichkeit. Nehmen Sie sich Ihre Worte nicht an, sie neigt zu ungerechtfertigten Gemeinheiten.“ Er grinste. „Wir haben unsere Schwierigkeiten mit ihr. Lassen Sie sich nicht von ihr reizen, ihre abgestumpfte Maske kann leicht täuschen.“
„Wie lange ist sie denn schon hier?“ fragte ich.
„Beinahe zwei Jahre – zwei schwierige Jahre für uns.“ Er seufzte tief. Petronella schien seine schwierigste Patientin zu sein.
„Sie wird von den anderen geschnitten, sogar die Schwestern gehen ihr lieber aus dem Weg. Sie hat es hier nicht leicht – aber wir mit ihr auch nicht.“ Jonas Pennbraker sah mich trotz seiner harten Worte aufmunternd an.
„Aber jetzt sollten Sie die Dame selbst kennen lernen. Folgen Sie mir.“ Mit einer höflichen Handbewegung wies er mir und Carry den Weg.
Es war später Nachmittag, Carry und ich waren sofort losgefahren nachdem sie von der Arbeit gekommen war. Die Besuchszeit im Altersheim war längst vorüber, im Aufenthaltsraum spielte aber noch eine kleine Gruppe mit zwei lustigen Schwestern Karten. Schon von der Tür aus konnte ich die zusammengesunkene Frau im Rollstuhl als Tante Petronella ausmachen. Ich fand in ihren Zügen nur eine vage Ähnlichkeit mit dem Gemälde in Astans Wohnzimmer. Diese Frau hier hatte tiefe Augenringe, eingefallene Wangen und einen verbitterten Zug um die Mundwinkel. Carry und ich sahen schockiert auf die ergraute Dame hinab. Ob Carry das gleiche dachte wie ich? War Petronella in dieses Heim abgeschoben worden – fühlte sich sich deshalb hier nicht wohl?
„Sehen Sie mal, Mrs. O’Flahatery. Hier ist der Besuch für Sie, den ich Ihnen angekündigt habe. Das ist Mrs. von der Houden und ihre Schwester Carry Cialdini.“
Tante Petronellas Blick streifte müde zuerst mein und dann auch Carrys Gesicht. Sie musterte uns ausgiebig von oben bis unten. Plötzlich erstarrte sie. Ihre Augen verrieten tiefste Bestürzung als sie einige Sekunden zu lange auf meinem Babybauch verweilten.
Jonas Pennbraker rollte Petronella näher zu der Couch im Aufenthaltsraum. „So.“ sagte er. „Hier können Sie sich besser mit ihrer Verwandtschaft unterhalten.“ Man konnte deutlich sehen wie Petronella zusammenzuckte, diese Geste machte mir nicht gerade Mut.
Carry rutschte an die Außenseite der Couch. Sie begann, im Fernsehen nach einem guten Programm zu suchen. Scheinbar wollte sie sich nicht in mein Gespräch mit der Tante einmischen, sie hatte ja auch nicht in diese Familie eingeheiratet.
„Ich freue mich so, Sie endlich kennen zulernen.“ sagte ich als ich Petronella gegenübersaß. „Mir tut es unendlich leid, dass wir uns nicht eher begegnen konnten. Aber niemand hat mich von ihrer Existenz unterrichtet. Niemand.“
Einige endlose Sekunden blieb es still, nur das Lachen der Kartenspieler war zu hören. Tante Petronella zog die Augenbrauen hoch, sie richtete sich in ihrem Rollstuhl zu voller Größe auf. Ihre Mundwinkel zuckten und verzogen sich schließlich zu einem unübersehbar gespielt höflichen Lächeln.
„Und jetzt wissen Sie, dass es mich gibt? Da sind Sie gleich mal hier rüber gekommen um die alte Frau zu besuchen? Wie nett von Ihnen. Glauben Sie, hier gibt es etwas zu holen?“
Sie musste husten. Ich war beinahe froh darüber. Ihre Stimme klang hämisch, ihr Körper verriet nur Ablehnung – vielleicht hatte Astan mich nur beschützen wollen als er mir von diesem Besuch abriet?
„Nein, nein!“ rief ich und wedelte mit den Armen. „Ich wäre doch schon eher gekommen wenn ich nur gewusst hätte… Ich erwarte nichts von Ihnen. Ganz im Gegenteil – ich möchte Sie fragen, was ich für Sie tun kann! Geht es Ihnen hier gut? Brauchen Sie etwas? Sie gehören doch zur Familie. Als Arkans Witwe bin ich doch auch für sie verantwortlich. Er hätte doch nicht gewollt, dass Sie hier…in diesem Heim…“
Ich blickte mich im Raum um, musterte jedes Möbelstück, jedes Fitzelchen der Tapete eingehend. Das konnte doch Arkan für seine Schwägerin nicht gewünscht haben. Warum war sie nur an diesem Ort obwohl die Familie genügend Geld hatte?
Carry warf einen Blick zu mir herüber. Ich hatte sie zur Unterstützung mitgenommen. Jetzt merkte ich, dass sie nur oberflächlich der Sportübertragung im Fernsehen folgte. In Wirklichkeit hörte sie gespannt Petronella und mir zu.
Die Tante verzog das Gesicht. Nachdenklich rieb sie sich die Hand. „Sie sind zu überhaupt nichts verpflichtet. Nur weil Sie seine Frau waren, müssen Sie sich nicht um mich kümmern. Die Kinder sorgen für mich, dieses Heim kümmert sich – was soll ich auch noch mit Ihnen? Mir geht es bestens. Danke für Ihre Umsicht, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht.“
„Nicht?“ Ich wand mich auf der weichen Couch, in der ich tief eingesunken sitzen musste.
„Ich könnte Sie besuchen kommen. Sie könnten mich in meinem Haus – also in Ihrem früheren Haus besuchen…“
Sie warf den Kopf zurück. „Ich wusste doch, dass Sie schon ein großes Stück vom Kuchen abbekommen haben.“ Sie lachte aufgebracht. „Das Haus gehört Ihnen?“
„Ja. Es wurde mir geschenkt.“
Sie klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel. „Ich hätte mir doch denken können, dass er genauso ist. Er kommt also auch ganz nach seinem Vater…kein Stück besser.“ Sie rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf, so als müsse sie lästige Gedanken vertreiben.
„Kindchen – als ich Sie vorhin gesehen habe, wusste ich wie diese Geschichte abgelaufen ist…“
„Wie ist sie denn abgelaufen?“ fragte ich und drückte mich steif in die nachgebenden Kissen der Couch.
„Arkan, sogar als greiser Casanova, konnte er nicht vom schönen Geschlecht lassen. Auf seine alten Tage musste er sich noch ein junges Ding zulegen. Wie ich sehen kann, ist Ihnen Schönheit beschieden, eine gute Figur…“
Sie sah mich eindringlich an. Ihre Augen waren nicht nur wasserblau, sie schimmerten kalt wie der offene Ozean.
„Ich nehme an, das Kind ist von ihm?“ fragte sie mit einem merkwürdig gekränkten Unterton.
„Es ist natürlich von meinem Mann.“ brummte ich.
„Na dann: Gratulation zum großen Wurf. Dieses Kind beschert Ihnen ein gutes Auskommen in dieser Familie. Aber lassen Sie sich nicht ködern – das Wort
„Familienzusammenhalt“ hat einen bitteren Nachgeschmack bei den von der Houdens.“
Unbehaglich rutschte ich auf der Couch hin und her. „Was wollen Sie mir vorwerfen? Ich bin hierher gekommen um sie kennenzulernen, um ein bis jetzt vor mir geheim gehaltenes Familienmitglied zu treffen.“
Sie räusperte sich. „Ihnen, Kindchen, werfe ich nur minimale Schuld vor. Sie haben sich verführen lassen von seinem Charme – das ist verzeihlich. Dass sein Sohn auch den Kopf bei Ihrem Anblick verloren hat, spricht zwar nicht unbedingt für seinen Charakter, allerdings kann man auch das nachvollziehen…“
Sie lächelte scheinbar verständnisvoll.
„Nehmen Sie es nicht persönlich, Mädchen. Aber wir beide wissen doch, woher Sie gekommen sind. Glauben Sie wirklich, dass diese Familie das jemals vergessen wird? Arkan ist tot und kann sie nicht länger beschützen...“
Ich sah sie entsetzt an.
„Sie bauen doch nicht etwa auf seine Söhne?“ Sie lachte laut. „Der eine ist ein Allerweltsliebling, der andere ein abgehobener Idealist! Machen Sie sich nichts vor – bei denen ist nichts zu holen!“
Ich erhob mich von der Couch. Carry folgte schon lange nicht mehr der Übertragung im Fernsehen, sie beobachtete gespannt den Schlagabtausch zwischen Petronella und mir.
„Sie sind eine ziemlich selbstgerechte Frau, Mrs. O’Flahatery. Ich weiß nicht, weshalb Sie so verletzend sprechen müssen. Ich bin hergekommen, um die Tante von Arkans Kindern zu treffen. Ich wollte nur freundlich sein, stattdessen…“
Sie sah zu mir hoch. Es war ein verletzter, ein trauriger Blick. Sie hob die Hände, so als wollte sie etwas sagen. Langsam ließ sie ihre Arme aber wieder sinken, die Handflächen legten sich locker auf ihre Schenkel.
„Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich so unerwartet in Ihrem so wunderbar eingerichteten Leben aufgetaucht bin.“ Ich sah mich extra deutlich im Raum um. Sie hatte hier keine Freunde, sie saß einsam in einer Ecke, selbst die Schwestern fürchteten sich vor ihr. „Ich wollte nett sein, ich war neugierig…“
„Ich werde jetzt gehen. Aber wenn Sie es wünschen, werde ich sehr gerne wiederkommen. Ich biete Ihnen Freundschaft an, Mrs. O’Flahatery. Wir sind beide Mitglieder in einer schwierigen Familie. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass wir im gleichen Boot sitzen.“
Sie hob wieder die Arme, so als würde sie mir etwas entgegnen wollen. Aber wieder ließ sie es sein. Welcher Schmerz verbarg sich in ihrem Inneren? Warum versuchte sie mich loszuwerden?
Ich sah sie offen an, ein aufrichtiger und unverstellter Blick – er sollte ihr Mut machen, mir zu vertrauen. Warum sollte ich ihr etwas Böses wollen? Was hatte ich ihr getan, dass sie mich aus ihrem scheinbar so traurigen Leben verbannen wollte?
„Ich bin mein ganzes Leben ohne Hilfe ausgekommen, Kindchen!“ sagte sie eisig. „Ich brauche niemanden – damals nicht und jetzt auch nicht. Gehen Sie nach Hause, in mein Zuhause – bringen Sie ihr Kind zur Welt und vergessen Sie mich. Sie sind jung, schön und vielleicht sogar klug. Machen Sie das Beste draus und denken Sie nicht mehr an mich. Ich bin eine alte und vielleicht auch mürrische Frau – mit mir verschwenden Sie nur Ihre kostbare Zeit.“
Sie konnte meinen traurigen, enttäuschten Blick nicht sehen, denn sie sah weder Carry noch mich an. Stur starrte sie aus dem Fenster in die weiße Schneelandschaft. Es war beinahe so als gäbe es uns nicht, als würden wir nicht direkt neben ihr stehen und ihr helfen wollen, sie in unser Leben aufzunehmen.
Ich seufzte. „Ich verspreche Ihnen, ich komme wieder. Ich verspreche es.“
Sie sah mich nicht an, sie rührte sich nicht, hartnäckig blickte sie hinaus.
Carry und ich ließen sie zurück: Eine alte, traurige Frau – abgesondert vom Familienleben und eingesperrt in einem Altersheim. Hier war sie tot, begraben und schon längst vergessen. Dabei war sie eine nahe Verwandte, die Tante der drei Kinder. Sie musste doch eine große Rolle im Leben der Familie eingenommen haben? Ich wusste viel zu wenig – warum hatte ich Arkan nur nie gefragt, warum war ich viel zu sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt gewesen?
Im weitläufigen Garten des Heims kramte ich mein Handy hervor.
Er nahm sofort ab. Offensichtlich freute er sich, meine Stimme zu hören.
„Wir müssen sprechen. Wo bist du?“ fragte ich aufgebracht in den Hörer.
„In der Downtown. Eine Galerie, eine kleine Seitenstraße…du müsstest dich aber durch den Feierabendverkehr quälen…“
„Das macht mir nichts aus.“ gab ich zurück. „Gib mir eine halbe Stunde, dann bin ich da.“