Hier kommt die langersehnte Fortsetzung. Lang ist sie auf alle Fälle - und ersehnt hoffe ich auch.
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Es gab keine weiße Weihnacht, aber das störte mich überhaupt nicht. Ich war vollauf mit den Vorbereitungen meines Weihnachtsessens beschäftigt. Astan unterstütze mich wo er nur konnte. Er half mir, das Obergeschoss meines Hauses mit Möbeln auszustatten, er ließ einen Weihnachtsbaum liefern und es schien ganz so, als würde mir ein wunderbarer Weihnachtsabend bevorstehen.
Langsam brach die Dunkelheit über Knocksville herein. Ich bestaunte den dekorierten Tisch und den geschmückten Weihnachtsbaum. Es würde nicht mehr lange dauern bis die Gäste vor der Tür stehen würden.
„Fühlst du dich wohl?“ fragte Astan. In seinem dunklen Anzug stand er vor mir und lächelte mich schelmisch an. Ich sah mich um und nickte aufgeregt.
Astan nahm mich in den Arm und ich schmiegte mich an seine Schulter. Für mich hatte sich nicht alles wie erwartet entwickelt, dennoch begann ich mich wieder rundum wohl zu fühlen.
Am Kopf der Tafel hatten wir einen Platz für meinen Bruder Consult frei gehalten. Aber leider musste er arbeiten und konnte nicht bei uns sein. Meine Schwester Carmen hatte mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern zu uns gefunden. Tante Petronella war zwar immer noch eine undurchsichtige Persönlichkeit für mich, aber auch sie war ein gern gesehener Gast in meinem Haus. Ariel half ihr ins Obergeschoss und setzte sich gleich neben sie. Mir schien es als würde Tante und Neffe ein sehr inniges Verhältnis verbinden. Ich beobachtete aufmerksam wie Tante Petronella mit Ariel über Alltäglichkeiten sprach und versuchte aus ihren Gesten zu lesen. Mir schien es als würden sie etwas vor mir verbergen, aber es blieb nur bei diesem vagen Gefühl – kein Wort, kein Mienenspiel verriet mir etwas. Während Tante Petronella mit Ariel über gemeinsame Bekannte scheinbare Nichtigkeiten austauschte, sah ich zu Carry hinüber.
Vor einigen Tagen war sie mit diesem hübschen blauen Kleid angekommen, das sie nun auch trug. Anfangs konnte ich gar nicht glauben, dass sie selbst dieses Kleid gekauft hatte, es passte so gar nicht zu ihrem Geschmack, dafür aber viel eher zu meinem. Carry wollte das Kleid unbedingt an diesem Abend tragen, sie war geradezu besessen von diesem Kleidungsstück.
Obwohl sie – ganz typisch Carry – eine lustige Weihnachtsmann-Mütze aufgesetzt hatte, war sie empfindlich ruhig seitdem die Gäste eingetroffen waren. Sie schien in sich selbst versunken, beinahe so als würde sie etwas bedrücken. Ich hatte zwar nach wie vor ein inniges Verhältnis zu Carry, aber wir hatten etwas den Draht zueinander verloren. Manchmal dachte ich, dass sie neidisch auf mein Glück mit Astan sein könnte, aber ich kam schnell wieder von dem Gedanken ab.
„Hast du den Vogel zubereitet?“ fragte Carmen an Carry gerichtet. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sich Carmen zu mir. „Ich gehe einmal davon aus, dass du dieses Essen nicht zubereitet hast. Es schmeckt vorzüglich.“
Hier machte sich einmal wieder jemand über meine Kochkünste lustig.
„Ja. Ich stand am Herd.“ kommentierte Carry den Spruch unserer Schwester leise.
„Hast du gut gemacht.“ rief Petronella ihr zu. „Aber es war den ganzen Tag über schwierig, diese Gerüche zu ignorieren.“
„Total lecker“ sagte der kleine Edward.
„Super lecker.“ stubste mich sein Bruder Ebenizer, der neben mir saß, an.
„Ich habe nur den Nachtisch angerührt.“ gab ich trocken zurück.
„Den mag ich am meisten, Tante Consuela.“ grinste mich Ebenizer breit an.
„Ich kenne niemanden, der eine Tüte so liebevoll aufreißen und den Inhalt zu einem so leckeren Nachtisch zusammenrühren kann wie du, mein Liebling.“ tönte es scheinbar ernst aus Astans Richtung.
„Ich bin schon sehr gespannt auf diesen so beliebten Pudding.“ Carmens Ehemann kannte sich wohl noch nicht richtig in unserer Familie aus.
„Wackelpudding.“ korrigierte ich ihn deshalb mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
„Ich mag den Nachtisch auch am liebsten. Wackelpudding sowieso.“ grinste Ariel meinen kleinen Neffen Ebenizer an.
„Tante Consuela macht tollen Wackelpudding.“ Ebenizer balancierte eine große Portion Truthahn auf seiner Gabel zu seinem Mund.
„Das glaube ich dir aufs Wort.“ gab Ariel zurück.
Als ich wieder von meinem Teller aufsah, trafen sich unsere Blicke und mein Herzschlag setzte kurz aus. Ariels Blick war wie üblich warm, aber seine Augen wirkten verschleiert. Es fühlte sich an als könnte er mir in die Seele blicken.
Verwirrt riss ich meine Augen von Ariel los und wandte das Gesicht zu Astan. Er hatte meinen Blickwechsel mit Ariel wohl nicht bemerkt, er schnitt seine Kartoffeln gerade eifrig in gleich große Teile. Ich versuchte mich auch wieder auf mein Essen zu konzentrieren. Ariel brachte mich unerwartet aus der Fassung, er schien wie ausgewechselt zu sein. Was hatte er nur?
„Sag mal, Bruderherz – du wirst unsere Consuela doch nicht zu sehr vereinnahmen, nicht dass wir demnächst auf sie verzichten müssen?“ zwinkerte Ariel seinem Bruder scherzhaft zu. „Ich glaube, wir würden ihren Wackelpudding vermissen.“ grinste er zusätzlich Ebenizer an.
Tante Petronella lächelte mich abwartend an. Ich zog die Stirn kraus. Ariels Frage klang scherzhaft dahingesagt, mir schien es aber so als hätte er eine andere Frage nur geschickt verpackt
Ich war so auf mich selbst und auf Ariels merkwürdig anmutende Frage konzentriert, dass ich nichts von dem wahr nahm, was sich ansonsten am Tisch abspielte. Ich war durcheinander: Ariel stellte es ja beinahe so hin als würde Astan ihm etwas wegnehmen, dabei hatte ich eher wenig mit Ariel zu tun.
Penibel schnitt ich das Fleisch klein und wartete auf Astans Antwort. Ich konnte nicht sehen wie Carry über den Tisch hinweg Ariel mit ihrem Blick fixierte. Es war ein abwesender, schwärmerischer und verträumter Blick. Die Mütze war ihr in die Stirn gerutscht, wie in Trance schob sie den roten Stoff an die richtige Stelle zurück.
Ariel bemerkte nicht, wie eindringlich er von Carry beobachtet wurde. Er warf mir einen fordernden Blick zu, ich sah schnell wieder auf meinen Teller hinunter, konnte aber nicht verhindern, dass ich rot wurde. Warum sich mein Gesicht unter seinen Augen rötete, konnte ich mir allerdings selbst nicht erklären.
Carry senkte langsam die Lider. Ihr Blick streifte die Kerzen, die leicht glänzende Tischdecke und schließlich starrte sie wieder auf ihren eigenen Teller. Ariels Blick war auf die falsche Person gerichtet – er himmelte Consuela an, das war nicht zu übersehen.
Carry fühlte sich plötzlich sehr dumm. Sie hatte extra dieses Kleid gekauft um ihm zu imponieren. Durch wie viele Boutiquen war sie gleich gewandert? Sie hatte unzählige Kleider probiert, sogar in diese unbequemen Schuhe hatte sie sich gequetscht, ganz zu schweigen von dem aufwendigen Make-up, das sie fast hatte verzweifeln lassen. Carry hatte sich komplett verbogen um ihm zu gefallen – und er sah nicht ein einziges Mal in ihre Richtung.
Tränen stiegen ihr in die Augen, mit einem tiefen Seufzen und mit zittrigen Händen nahm sie einen Schluck Wasser aus ihrem Glas.
„Schmeckt es dir nicht?“ fragte Carmen.
„Doch, doch.“ gurgelte Carry mit dem Glas an ihrem Mund. Schnell nahm sie noch ein paar Züge, denn nur so konnte sie verhindern in Tränen auszubrechen.
„Was heißt hier wegnehmen?“ meinte Astan zu seinem Bruder. „Schatz, nehme ich dich irgendjemandem weg?“ fragte er mich.
Ich schüttelte nur hastig den Kopf.
„Wenn du ein Stück von Consuela willst, dann nimm es dir doch einfach.“ Astan tätschelte meine eiskalte Hand, die auf dem Tisch lag. Ich stieß einen Schwall Luft aus.
„Consuela ist für alle da. Sie ist einfach ein wunderbarer Mensch – ich will sie mit Sicherheit niemandem wegnehmen. Nimm es mir aber nicht übel falls es doch passieren sollte: Ich verbringe einfach viel zu gern Zeit mit ihr.“ Astan beugte sich zu mir herüber und streichelte mir liebevoll über den Arm, aufmunternd lächelte er mich an. Ich schenkte ihm einen scheuen Blick. Tante Petronella verfolgte das Geschehen scheinbar interessiert, sagte aber nichts dazu.
„Das beruhigt mich nur bedingt…“ sagte Ariel, der ein bisschen zusammengesunken war. Mit geschlossenen Augen holte er Luft.
„Heißt das etwa, dass uns bald eine Hochzeit ins Haus steht?“ platzte es aus Ariel heraus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich Ariel und Petronella an. Letztere lächelte wissend und sah Astan abwartend an. Ariel hatte die Augenbrauen zusammengezogen. „Planst du etwas, Bruderherz?“ bohrte er nochmals.
Ungläubig blickte ich zwischen Astan und Ariel hin und her. Dieses Gespräch beunruhigte mich, während es Tante Petronella eher zu belustigen schien. Sie biss sich auf die Lippe um sich das Lachen zu verkneifen.
„Was findest du so lustig?“ zischte ich mit gesenktem Kopf über den Tisch. Sie gab mir keine Antwort, bemühte sich aber jetzt noch stärker, keine Miene zu verziehen.
Astan fuchtelte hektisch mit seiner Gabel. „Also…so…nun ja…“
„Du bringst deinen Bruder sichtlich in Verlegenheit, Ariel.“ Tante Petronella beobachtete eingehend Astans Reaktion auf Ariels unerwartete Frage.
„Consuela und ich haben diese…nun ja – diese Möglichkeit noch nicht in Betracht gezogen. Aber jetzt wo du es erwähnst…“ Astan wandte sich zu mir, mit weit aufgerissenen Augen erwartete ich das Schlimmste.
„Oha.“ hörte ich von Petronella.
„Consuela, Liebling – denkst du nicht auch, dass wir einmal heiraten werden?“
Ich schnappte nach Luft. Es war natürlich kein Heiratsantrag, aber es machte Astans Hoffnungen deutlich. Ich hingegen hatte noch nicht einmal in meinen kühnsten Träumen an eine Ehe mit Astan gedacht.
„Wie kannst du so etwas nur fragen?“ wandte ich mich an Ariel. Ich versuchte, so leise wie nur möglich auf Ariel wütend zu sein um die Gäste am anderen Ende des Tisches nicht auf unser Gespräch aufmerksam zu machen, was mir allerdings nicht gelang.
Astan reagierte beschwichtigend. „Das hat er doch nicht böse gemeint. Beruhige dich.“
„Du drängst deinen Bruder ganz schön in die Ecke.“ wandte ich mich wieder an Ariel. „Diese Frage war unpassend und unnötig, auch wenn sie wohl eher ein Scherz sein sollte.“
„Consuela…dein Temperament geht einmal wieder mit dir durch.“ Astan versuchte es jetzt auf die lustige Tour. Mein Blick brachte ihn zum Schweigen.
„Du wirst es als einer der ersten erfahren wenn eine Hochzeit ansteht. Wir werden dann hübsche Karten verschicken und in der Zeitung wird es wohl auch stehen. Bis jetzt ist aber noch nichts in Planung.“ informierte ich Ariel kühl, aber nicht ohne höhnischen Unterton.
„Mach nicht so einen Wind um Ariels unbedachte Bemerkung. Das ist nicht nötig.“ bat mit Astan erneut.
„Es hat sich schon geklärt.“ nickte ich Astan zu. „Es ist einfach ein Thema, auf das ich etwas sensibel reagiere. Wir sollten solche Dinge nicht überstürzen, auch nicht wenn dein Bruder drängt. Es ist alles noch etwas in der Schwebe: die Familie, das Baby…“ Astan runzelte enttäuscht die Stirn.
„Es ist tatsächlich besser, ein so wichtiges Thema in Ruhe anzugehen.“ warf Petronella ein.
„Lass uns später darüber reden.“ murmelte ich. Astan nickte nur widerstandslos.
„Tante Consuela, wirst du Onkel Astan jetzt heiraten?“ fragte Ebenizer mich. Ich konzentrierte mich auf meinen Teller und suchte nach einer passenden Antwort. Würde ich Astan heiraten? Wollte ich das überhaupt – wieder die Frau eines von der Houdens werden? Der Gedanke daran erschien mir bizarr. Unwillig schob ich das Essen auf meinem Teller hin und her.
„Tante Consuela?“ fragte Ebenizer erneut.
„Irgendwann bestimmt. Irgendwann will sie es auch.“ Ebenizer akzeptierte Astans Antwort ohne weitere Nachfragen. Ich starrte weiterhin auf meinen Teller.
„Aha. - Gibt es jetzt den Wackelpudding?“ fragte Ebenizer aufgeregt.
„Ich glaube, den sollte es jetzt gleich geben.“ hörte ich Ariels weiche Stimme. Ich schloss die Augen um das Timbre seiner Stimme aus meinem Kopf zu vertreiben.
Wenn zuerst Carry sehnsüchtig über den Tisch geblickt hatte, dann war es jetzt Ariel. Keiner bemerkte seinen Blick, der nur einer einzigen Frau im Raum galt. Er ließ sie gar nicht mehr aus den Augen. Ihr zartes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, ihre vollen Lippen und die Augen mit den langen Wimpern: das alles schien ihm so bekannt zu sein – und gleichzeitig unereichbar.
„Wie schon gesagt: Ich liebe Wackelpudding.“ murmelte Ariel gedehnt.
Die Kinder konnten es nicht mehr aushalten, also durften sie sofort nach dem Essen des Nachtischs die Geschenke öffnen. Wir Erwachsenen schenkten uns nichts, wir erfreuten uns einfach an den glücklichen Gesichtern der beiden Jungen als sie die großen Pakete auswickelten. Mit rot glühenden Wangen probierten sie sofort alle Spielsachen aus, aber das Puppenhaus war von Anfang an der Favorit.
Während die Kinder spielten, kam Bewegung in die Runde der Gäste. Carmens Ehemann räumte den Tisch ab, Astan setzte sich an das Klavier und spielte alle Weihnachtslieder, die ihm in den Sinn kamen, Carmen plauderte mit Tante Petronella und Carry und ich machten es uns in den beiden weichen Sesseln gemütlich. Ariel verfolgte mein Gespräch mit Carry, die mir aus unerfindlichen Gründen abweisend erschien. Vielleicht war sie böse wegen meiner unschönen Reaktion auf Ariels kindische Frage?
„Du kannst doch so schön singen, willst du uns nicht etwas vortragen?“ versuchte ich meine Schwester aus der Reserve zu locken.
„Oh ja!“ klatschte Ariel in die Hände. „Das klingt hervorragend.“
Carry reagierte unwirsch. „Bist du verrückt? Ich mache mich doch hier nicht zum Affen vor der Familie deines Freundes.“
Ich zuckte zusammen. So hatte ich meine Schwester noch nie erlebt – wirklich noch nie. Carry war immer der Inbegriff von Fröhlichkeit, sie war ständig für einen Scherz aufgelegt. Außerdem hatte sie eine wirklich wunderschöne, kristallklare Stimme – es gab keinen Anlass für sie, sich zu genieren.
„Entschuldigung.“ murmelte ich. „War ja nur ein Vorschlag.“
„Vielleicht sollten wir lieber anstoßen.“ gab Carry zurück. Ich war dankbar für diese Ablenkung, denn das Verhalten meiner Schwester bereitete mir Sorgen.
Wir versammelten uns alle um Tante Petronella, dem Ehrengast an diesem Abend. Der Sekt wurde ausgeschenkt, in meinem Glas perlte allerdings nur Mineralwasser. Die Kinder schauten etwas ungläubig – sie fragten sich wohl, was die Erwachsenen merkwürdiges veranstalteten. Das Puppenhaus war jedenfalls kurzzeitig zur Nebensache geworden. Mit großen Augen sahen Ebenizer und Ewald zu mir auf.
„Es ist das erste Weihnachtsfest, das wir in diesem Kreise verbringen. Es sind einige neue Gesichter zu unserer kleinen Gruppe dazugekommen. Ich rede natürlich von Astan und Ariel, für deren Besuch ich mich ganz herzlich bedanken will.“
„Ich freue mich jedes Jahr über den Besuch aller meiner Gäste, dieses Jahr möchte ich allerdings nicht nur auf unser Zusammenkommen anstoßen, sondern auch auf einen ganz besonderen Menschen in unserer Runde: Ich freue mich ganz besonders, Petronella in unserer Gesellschaft zu wissen. Ich hoffe, dass wir noch viele Weihnachtsabende mit ihr verbringen können und dass ihr der ganz besonderen Platz in unserer Familie eingeräumt wird, der ihr zusteht.“
Mein Blick streifte Ariels Gesicht, das wie versteinert erschien. Kurz schossen mir Erinnerungen an die Vergangenheit durch den Kopf: Die gesamte Familie von der Houden hatte mich komplett abgelehnt, jetzt begrüßte ich sie in meinem Haus. Ich dachte an Agatha, die eigentlich auch zur Familie gehörte und die ich mit meiner Rede nun aus der Familie ausschloss. Ob Ariel immer noch der Hoffnung nachhing, die Familie könnte wieder zusammen finden?
„Auf Tante Petronella, die wir in unserer Mitte herzlich willkommen heißen!“ sagte ich mit hoch erhobenem Glas und wir prosteten alle der alten Dame zu.
Wir verbrachten noch einige schöne Stunden. Astan und ich tanzten neben dem Weihnachtsbaum als diesmal Ariel zeigte, was er in den teuren Klavierstunden gelernt hatte. Tante Petronella schien sich wunderbar mit Carmen zu verstehen, Carry blieb den ganzen Abend über bedenklich schweigsam. Die Kinder rannten aufgedreht um uns herum, nach dem Puppenhaus hatten sie die Spielzeugflugzeuge für sich entdeckt.
Der Abend neigte sich langsam dem Ende - wenn sie nicht gerade gähnten, dann lauschten die Jungs aufmerksam den Gesprächen der Erwachsenen. All das sprach dafür, dass nun die Bettgehzeit für die Kleinen und Großen gekommen war.
Astan verabschiedete sich als erster aus der Runde.
„Ich komme morgen zu dir rüber, Liebling.“ sagte er während er mir tief in die Augen blickte. „Wir könnten einen Spaziergang durch den Park machen. Ich rufe dich gleich morgen früh an. Schlaf schön.“
Was keiner wusste und was wohl nur von Petronella geahnt wurde: Astan hatte bisher noch nicht bei mir übernachtet. Wir erschienen für alle als ein fest liiertes Paar, doch in Wahrheit waren wir noch nicht wirklich – nun ja – intim gewesen.
Astan schien diesen Zustand momentan zu akzeptieren, wir hielten Händchen und knutschten rum wie Teenager – doch mehr war bisher nicht geschehen. Auch an diesem Abend gab Astan mir ohne weitere Forderungen nur einen zarten – doch dafür umso längeren – Abschiedskuss.
Ich nahm nicht wahr, dass Astan und ich von Treppenabsatz des Obergeschosses aus beobachtet wurden. Dort stand Ariel und beobachtete mit angespanntem Körper und versteinerten Gesichtszügen meinen liebevollen Abschied von Astan.
Als ich wieder ins Obergeschoss kam, klimperte Ebenizer gerade nervtötend auf dem Klavier herum. Ariel saß in einem der Ohrensessel und hörte dem Kind zu als wäre es ein Spitzenpianist.
„Dein Bruder ist jetzt gegangen.“ sagte ich zu Ariel.
„Ja.“ sagte er nur. „Für mich ist es nun auch Zeit zu gehen.“ Er erhob sich und ging zu Ebenizer. „Wenn du weiter fleißig übst, dann könntest du richtig gut werden, Kumpel.“ sagte er zu meinem kleinen Neffen, der freudig zu strahlen begann.
Ariel verabschiedete sich von den anderen Gästen. Wieder beschlich mich das Gefühl, dass zwischen Petronella und ihm eine besondere Bindung bestand.
Der Flur im Erdgeschoss war dunkel, nur schwach drang das Licht aus dem Obergeschoss zu uns hindurch. Auf Ariels Gesicht tanzten Schatten, die seine Mimik für mich noch undurchschaubarer werden ließen.
„Ich habe kein Recht, mich in dein Leben einzumischen. Und obwohl ich kein Recht dazu habe, ist es mir doch zu oft passiert, dass ich eingegriffen habe.“ flüsterte Ariel.
Unwillig schüttelte ich den Kopf. Ich war immer noch enttäuscht über seine unpassende Bemerkung beim Essen. Eigentlich wollte ich dieses Gespräch mit ihm überhaupt nicht führen.
„Ist es wahr, was ich da oben hören musste? Werden Astan und du bald heiraten?“ Er sprach schon wieder dieses Thema an – in meinen Augen einfach waren Ariels Nachfragen einfach nur frech.
Während ich nach den richtigen Worten suchte, fand sich wieder ein Beobachter an der Treppe ein. Diesmal war es Carry, die im Erdgeschoss neue Getränke holen wollte. Sie blieb abrupt auf dem Treppenabsatz stehen, mit müden Augen beobachtete sie die Abschiedszene zwischen Ariel und Consuela.
Sie ließ die Schultern hängen, ihr Herz fühlte sich plötzlich ganz schwer an. Trotz der Dunkelheit im Erdgeschoss sah sie das Leuchten, das von Ariel ausging. Dieses Leuchten galt allerdings nicht ihr, sondern ihrer Schwester Consuela. Carry fühlte sich hilflos, sie konnte Ariel nicht dazu zwingen, ihre Gefühle zu erwidern. Er hatte sie den ganzen Abend über nicht einmal beachtet, sie war nur die kleine Schwester seiner Consuela, die ihm von seinem Bruder streitig gemacht wurde. In Carry stieg Wut hoch. Warum konnte sie nicht auch einmal glücklich sein? Hatte Consuela nicht alles, was sie brauchte: Ein Wunschbaby, ein wunderbares Haus und einen gutaussehenden Ritter konnte sie schon ihr Eigen nennen – warum konnte sie Carry nicht wenigstens Ariel lassen?
„Warum belästigst du mich mit solchen Fragen?“ warf ich Ariel in der Zwischenzeit vor. „Eine Hochzeit steht noch nicht zur Debatte. Dein Vater ist gerade erst gestorben, meine Gedanken gelten dem Baby – Astan und ich sind noch nicht so weit, wir haben ja noch nicht einmal…“ Die Worte brachen aus mir heraus, doch dann konnte ich mich zügeln, Ariel ging meine Beziehung zu Astan nichts an.
In Ariels Augen erklomm trotzdem die Erkenntnis. „Ach so.“ sagte er auf eine erschreckend erleichterte Art.
Ich trat einen Schritt zurück. „Wolltest du nicht gehen?“ bellte ich ihn barsch an. „Es ist schon spät.“
Das Lachen aus dem Obergeschoss, Ebenizers Geklimpere und Edwards inzwischen wieder anschwellende Lautstärke straften meine Worte Lügen. „Es ist Zeit zu gehen.“ sagte ich trotzdem nachdrücklich.
Ariel ergriff meine Hand, die ich ihm entziehen wollte. Ich versuchte mich loszureißen, aber er drückte meine Hand dermaßen schmerzhaft, dass ich dieses Vorhaben schnell wieder aufgab.
„Ich möchte meine Chance ergreifen bevor es zu spät ist.“ sagte er zu mir.
„Chance? Welche Chance?“ echote ich.
"Ich möchte es dir jetzt sagen, bevor Astan und du ein richtiges Paar seid. Ich möchte nicht erleben wie du Astan heiratest, ohne dass ich dir die Wahrheit gesagt habe."
"Was?" flüsterte ich weil er ebenfalls leise sprach. Ariel kniff die Augen zusammen, sein Gesicht kam meinem immer näher.
"Ich empfinde mehr für dich als du glaubst. Ich möchte, dass du das weißt bevor du dich endgültig für Astan entscheidest."
"Wie bitte?" Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Meine Hand, die er immer noch fest umklammerte, schmerzte. "Ich habe mich bereits entschieden - für Astan." hauchte ich ihm entgegen, denn sein Gesicht kam immer und immer näher.
"Astan ist nicht der Richtige für dich." flüsterte er zurück.
"Das hast du nicht zu entscheiden." murmelte nun ich wiederum.
Mehr Widerworte konnte ich nicht geben, denn schon in diesem Moment berührten seine Lippen die meinen. Das Erstaunliche: Obwohl ich Herzklopfen verspürte und ich tiefe Sorge hatte, ein Gast aus dem Obergeschoss könnte Ariel und mich ertappen, soetwas wie Schuldgefühle empfand ich nicht. Nichts an dem Kuss fühlte sich verboten an, es erschien mir nicht wie ein Betrug an Astan. Ariels warme Lippen fühlten sich an wie - ja, unglaublich - wie Zuhause. Es fühlte sich nicht verboten-kribbelig, sondern vollkommen natürlich an. Als wäre alles in meinem Leben an seinem Platz, als wäre die Weltordnung wieder hergestellt: Dieser Kuss riss mich fort.
Das Bild, dass sich Carry vom Treppenabsatz bot, brach ihr das Herz in tausend Stücke. Sie ließ die Schultern hängen, doch langsam ballte sie die Hände zu Fäusten. Ihr Blick zeigte tiefste Trauer, doch in ihrem Inneren kämpfte sie mit ihrer Wut.
Sie hatte die Wahrheit bereits gespürt. Aber jetzt, da sie Gewissheit hatte, wem Ariels Herz gehörte, fühlte sie die gesamte Ungerechtigkeit der Welt auf sich lasten.
Schon wieder lag Consuela ein Mann zu Füßen, schon wieder hinterging sie einen weiteren Mann. Carry hingegen, die liebe, gute Carry - sie ging wieder leer aus.
Carry wollte nicht glauben, was sie da sah: Hatte Consuela nicht aus ihren Fehlern gelernt? Warum spielte sie schon wieder mit dem Feuer? Und warum ausgerechnet mit Ariel - Carrys Ariel?
Eines schien für Carry klar: Consuela würde sich nicht für Ariel entscheiden, denn sie liebte einzig und allein Astan. Carry war sich allerdings nicht sicher, ob Ariel ihre Schwester würde vergessen können. So schnell wollte sie aber nicht aufgeben - jetzt erst recht nicht.