Kapitel 168 – Teil 2 - Die rote Zora
Kapitel 168 – Teil 2 - Die rote Zora
„Ich möchte euch mitteilen, dass ich mich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen habe, nicht Mutter zu werden. Ich habe am Mittwoch um 9.30 Uhr einen Termin in der Klinik und wäre dankbar, wenn mich jemand begleiten würde.“
Desdemona sog scharf Luft ein, dann stockte ihr der Atem. „Aber Julia … Kind, das kann doch nicht wirklich dein Ernst sein!“, faßte sich ihr Stiefvater als erster wieder und erhob sogleich Einspruch.
Nathaniels Miene erstarrte und er schloß die Augen. Ausdruckslos wie eine Marmorstatue stand er für einen Moment da, sein Brustkorb hob und senkte sich schwer über seinem wild jagenden Herzen. Dann trat er einige Schritte zurück und schaute sich um. Wo blieben bloß Frank Elstner und sein Versteckte-Kamera-Team? Oder sollte es tatsächlich wahr sein?
Er entfernte sich immer weiter vom Haus der Alvarez und streifte ziellos über die Insel. Und es war ihm völlig gleichgültig, ob ihn jemand dabei sah. Selbst wenn es sein Bruder gewesen wäre und dieser die einmalige Chance ergriffen hätte, ihn zu vierteilen, es wäre ihm in diesem Moment egal gewesen.
„Nein und nochmals nein, ich habe entschieden!“, betonte Julia noch einmal vehement mit bebender Stimme. „Aber Liebes, du bekommst doch alle Unterstützung von uns, die du brauchst! Wir werden alles für dich und dein Baby tun, das verspreche ich. Bedenke doch, auch ich habe damals mit mir gerungen, ich kann dich so gut verstehen …“ – „Ja, ja, ich kenn’ die Story in- und auswendig“, entgegnete Julia ihrer Mutter, „aber ich bin nicht du. Und ich weiß außerdem, dass du jahrelang gelitten hast, bis du dich endlich überwunden hattest, meinen Erzeuger hinter Gitter zu bringen. Ich will diese ******* nicht, verdammt noch mal - ich will frei sein und Nat nie wieder begegnen!! Hörst du?!“
Desdemona begann zu weinen und auch Julia kamen die Tränen. Unaufhaltsam, dann übermächtig. Kurz zögerte sich noch, dann nahm sie ihre Mutter in die Arme, und Herr Alvarez ging leise mit der kleinen Jasmin nach draußen.
Frank Elstner war noch immer nicht aufgetaucht, niemand hatte Nathaniel erlöst und niemand kümmerte sich um ihn, außer einem kleinen Streuner, der aber wohl eher Hunger hatte, als sich um das Leid eines ihm unbekannten Menschen scheren.
Er hatte sich mit seiner Familie überworfen, bevor er sie überhaupt erst richtig kennengelernt hatte. Seinen Vater hatte er nicht gekannt, seine Mutter wollte ihn nicht mehr sehen. Und das Mädchen, das er liebte, war also nun schwanger und wollte sein Baby nicht. Ihm offenbar nicht einmal sagen, dass es überhaupt existierte!
Nat betrachtete den goldenen Springbrunnen vor der Inselkirche. Er dachte an die Hochzeit von Naike und Paul zurück, zu der er damals eingeladen war. An Pauls entglittene Gesichtszüge, nachdem Nastassja ihm mitgeteilt hatte, dass seine Braut nicht mehr kommen würde …
Also nicht nur ihm wurde übel mitgespielt – wer dachte sich das bloß alles aus? Gab es vielleicht doch eine Art Allmächtigen, der alles plante und die Seinen ganz nach seinen persönlichen Vorstellungen tanzen ließ?, fragte er sich. Er, Nathaniel Tallis, der nie an irgend etwas geglaubt hatte als an sich selbst.
Der Streuner winselte fordernd. Nat stieß ihn mit einem sanften Tritt von sich, doch der kleine Hund ließ sich nicht entmutigen, sondern forderte nur noch eindringlicher seine Aufmerksamkeit. Nat lächelte ihm anerkennend zu und beschloß, es ihm gleich zu tun, statt sich selbst zu bedauern.
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Noch am Abend hatte Desdemona Adam die Entscheidung ihrer beider Tochter mitgeteilt, was ihn sehr erleichtert hatte. Am nächsten Morgen erörterte man die Neuigkeit ausgiebig am Frühstückstisch, nachdem Johanna und Marie zum halbjährlichen Wandertag ihrer Schule aufgebrochen waren.
Eigentlich waren alle froh über Julias Entschluß, nur Naike fühlte sich unschlüssig. Sie wußte als Frau und Mutter besser als die Männer, dass es auch so sehr schwer für die junge Frau, die für sie fast wie eine eigene Tochter war, werden würde. Dass nach dem kommenden Mittwoch ganz sicher nicht alles einfach vergessen sein würde, dass einen Menschen mehr ausmachte, als nur sein Körper, und dass ein Baby nun mal ein werdender Mensch war, egal wie winzig es auch noch gewesen sein mag, als seine Existenz beendet wurde.
„Du meinst, Abtreibung ist Mord?“, fragte Joseph erschrocken. „Das habe ich nicht gesagt“, antwortete Naike, „ich wollte nur zu bedenken geben, dass die Sache mehrere Seiten hat, von denen man sie betrachten kann, und dass es für Julia kein „Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn“ geben wird, zumal sie Nat geliebt hat und es vielleicht noch immer so ist. Aber niemand kann ihr die Entscheidung abnehmen, wir sollten sie jetzt weder feiern noch verdammen, sondern ihr nur helfen, indem wir für sie da sind, egal was letztendlich geschieht.“
Die Tallis-Brüder nickten zustimmend und zeigten sich nun nachdenklicher, statt sich offen zu freuen, was auch Naike ein besseres Gefühl gab. Sean dachte im Grunde wie seine Mutter, fühlte sich bei derart viel Ernsthaftigkeit am Tisch aber ein wenig überfordert …
… und trollte sich lieber Richtung Spülmaschine, was er sonst eher ungern tat.
„So, Leuts, ich bin jetzt weg zum Training“, rief er seinen drei Eltern, wie er das für ihn noch immer sehr seltsame Trio inzwischen heimlich nannte, zu und wollte schon auf dem Absatz kehrt machen, als ihm noch etwas einfiel: „Ach, ich wollte noch fragen, ob es okay ist, wenn Levent heute über Nacht bleibt? Wir wollen ein paar DVDs gucken, wenn die Zwillis endlich im Bett sind, sonst geht das ja immer nicht so gut“, wollte er völlig unbedarft wissen.
Adams zuvor ausnahmsweise mal entspannte Gesichtszüge nahmen einen strengen Ausdruck an. „Weißt du was, mein Junge“, sagte er in einem betont ruhigen, eindringlichen Ton, der einem niedertourigen Zahnarztbohrer alle Ehre gemacht hätte, „da würde ich noch eher Guido Westerwelle zu Kaffee und Kuchen bitten.“
Naike und Joseph sahen sich irritiert an. Sean biß sich auf die Unterlippe und hielt dem Blick seines Vaters eisern stand, als ginge es um ein Duell mit den Augen als Waffen – wer zuerst wegsah, hatte verloren. Schließlich war es Adam, der sich als Erster abwendete und seelenruhig zu seiner Gabel griff, um sich endlich seine Pfannkuchen schmecken zu lassen. „Sean!“, rief Naike hilflos, als sich ihr Junge seine Jacke von der Garderobe riß und die Haustür mit dem Fuß auftrat, und rannte dann hinter ihm her.
„Was bitte war
das denn jetzt wieder, wieso Westerwelle?“, fragte Joseph verwundert. „Du kannst aber auch nicht mehr bis drei zählen, oder?!“, sagte Adam süffisant. „Wofür ist dieser Mensch bekannt, hm?“ – „Er ist … äh … Außenminister?“, riet Joe. „Ach nee,
tatsächlich?“, giggelte Adam mit extra hoher Stimme und tat dabei so, als ob er ein Täschchen schwenkte. Hätte Joseph eine Glühbirne über dem Kopf gehabt, hätte man sie nun leuchten sehen. Er zog die Stirn kraus. „Du meinst Seans Freund ist schwul?“ – „Sehr wahrscheinlich, ja.“ Joseph schnappte nach Luft. „Und woher weißt du das?“ Das wollte Adam doch nun lieber nicht preisgeben. „Ja, und Sean? Meinst du, er …“ Adam stopfte sich ein viel zu großes Stück Pfannkuchen in den Mund, so dass er vorerst nicht antworten musste.
Joseph kratzte sich nachdenklich am Kopf und grinste dann mit einem Male so breit, wie er nur konnte. „Also, selbst wenn, ich sehe dennoch keinen Grund, Levent hier nicht übernachten zu lassen, schließlich hast du mich doch auch zu Kaffee und Kuchen eingeladen!“ Adam verschluckte sich an seinem Pfannkuchen und prustete einen Teil davon auf den Tisch, nachdem sein Bruder erfolgreich Erste Hilfe geleistet hatte, indem er ihm kräftig auf den Rücken geklopft hatte. Mit einem Satz sprang Adam auf und packte Joe beim Kragen, der nun aus Luftnot zu husten begann. Doch da kam Naike zurück ins Haus und er ließ ihn schnell los, allerdings nicht ohne seinem Bruder noch einen zusätzlichen Tritt zu verpassen.
„Hallooo? Aber sonst alles klar?“ Die Tallis-Brüder sahen sie unschuldig an, als wäre nichts gewesen, lediglich Josephs Hals war leicht gerötet. Ach, hört doch auf, ihr seid unerträglich – alle beide!!“, bemerkte Naike völlig entnervt, nachdem sie wieder am Tisch Platz genommen hatte. Zum Glück hatte sie den Großteil der „Unterhaltung“ verpaßt, der Tritt jedoch war ihr nicht entgangen. Sie warf ihrem Mann einen unterkühlten Blick zu und Joseph wünschte sich auf einmal, doch lieber wieder bei Eva und seinen Söhnen daheim am Tisch zu sitzen.
„Wo willst du hin, hast du heute nicht frei?“ – „Ja, aber ich muss in die Stadt zum Kostümschneider, für Sean was abholen.“ – „Kann dich gerne mitnehmen, treffe mich um zehn Uhr mit Eva, hätte bei der Rückfahrt aber dann Ben dabei.“ – „Oh, das ist doch fein, ich freu mich auf den Kleinen!“
Adam beobachtete, wie Naike zu Joseph in den Wagen stieg und sie dann Richtung Hafen fuhren. Bestens - nun hatte er das Haus ganz für sich allein. Er zögerte nicht lange und ging zielstrebig ins Schlafzimmer.
„Alles okay mit dir? Du wirkst so … na, wie soll ich sagen? So saftlos irgendwie.” – “Nein, nein, mir geht’ bestens, und jetzt guck auf die Straße, sonst landen wir nachher noch sonst wo, nur nicht am Hafen.“
Kommissar Maigret wühlte sich derweil durch sämtliche Schubladen der verdächtigen Person. Doch alles, was er fand, war völlig gewöhnlicher Kommoden-Inhalt, von Büromaterial über einige persönliche Erinnerungsstücke bis hin zu unzähligen geringelten Sockenpaaren. Und das winzige Höschen, das sie in ihrer Hochzeitsnacht getragen hatte, stöberte er ebenfalls auf. Adam drehte es wehmütig zwischen den Fingern und schnupperte daran. Es roch nach
Sui Love.
Und leider gab auch der Laptop nicht mehr her, als bei der Infiltration zuvor, ihm fiel nur auf, dass keine neuen Mails von der Adresse gekommen waren, unter der seine Frau sich offenbar selbst geschrieben hatte. Adam klickte auf den Ordner „family“ und betrachte stirnrunzelnd erneut die Bilder, die Naike mit ihm völlig fremden Personen zeigten. Dann googelte er eine geschlagene Stunde nach Stichwörtern wie Schizophrenie, Paralleluniversen und Virtual Reality.
“Lass mich bitte hier raus, ich möchte mir noch einen Cappu holen.”
“Ich bleib dabei, egal was du mir sagst, dir geht es ganz und gar nicht gut. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit, du gehst jetzt schon mal vor, ich parke den Wagen weg, und dann will ich wissen, was los ist!“, bestimmte Joe.
Naike seufzte. „Wie könnte ich denn fröhlich sein? Wir haben doch alle nur Probleme. Ist eines halbwegs gelöst, kommt das nächste dazu. Und Adam …“ – „Nun geh’ schon, oben im ersten Stock ist ne ruhige Ecke, da komme ich gleich hin.“ Er schubste sie zart. Naike nickte, öffnete die Autotür und ließ sich vom Ledersitz gleiten.
„
Wo kommen Sie her? Brimen? Das kenn’ ich net.“ – „Bremen“, korrigierte Judy den blonden jungen Mann, der ihr gerade ein Sandwich strich. „Hm … nö, nie gehört. Bin übrigens der Georg, aber bitte sagen Sie Dschordsch“, flüsterte er so geheimnisvoll verschwiegen, wie einst Schlemihl in der Sesamstrasse, „Dschordsch Kirschfink.“ Judy lachte. „Okay, Dschordsch, und ich bin einfach die Judy aus einer anderen Welt.“ – „Hui!“, staunte Georg und fand diese Vorstellung sehr sexy, besonders aber wie sie ihn musterte. Moment … ihn? Georg bemerkte jetzt, dass sie an ihm
vorbei starrte, in die Ecke hinter ihm, aus der plötzlich ein Schluchzen drang.
Judy kam sich vor wie in der ersten Reihe eines Theaters, wusste aber nicht, ob sie es als Glück oder Unannehmlichkeit betrachten sollte, stets an den Stellen zu sein, wo es
die Sims zu sehen gab, die sie auch unbedingt sehen wollte. Würde Sim-Naike sie erkennen? Vielleicht stutzig werden, dachte sie sich, aber in dieser Situation wohl kaum. Judy beschloss, weiterhin ruhig sitzen zu bleiben und zu verfolgen, was geschah.
Doch das war gar nicht so einfach, denn nun zog Georg wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Hach jaaa, die Liebe“, stöhnte er wissend und dozierte trivial: „Des einen Glück, des anderen Leid!“ - „Mannomann, an Ihnen ist wohl eine Art Shakespeare verloren gegangen“, bemerkte Judy kichernd. „Wie Recht Sie haben, mein Kind. Ach, sagen wir doch du, ja?“ – „Mein Kind, du bist doch auch noch nicht älter als 25, oder?!“ – „Ich durfte mich diesen Jänner 24 Lenze zählen“, fuhr Georg weiter theatralisch fort. „Aber Lebenserfahrung, die konnte ich bereits ergiebigst sammeln.“
Judy versuchte, wenigstens ein paar Fetzen von dem Gespräch zwischen Joe und Naike aufzufangen, aber Dschordsch erzählte nun ohne Unterlass von seiner dramatischen Kindheit. Als er endlich von seinem Chef gerufen wurde, war Joseph blöderweise gerade gegangen.
„Da Sie … äh du ja aus Brimen, einer anderen Welt, kommst - darf ich dich am Abend zu einem Umtrunk in unsere coolste Bar der Stadt, ins
Krypta einladen? Ich bin um 21 Uhr hier fertig und könnte eine halbe Stunde später vor Ort sein. Hm, wie wär’s?“
Judy überlegte rasch. Dschordsch war zwar nervig, aber dennoch recht nett und auch nicht völlig unattraktiv. Und ins
Krypta, das sie natürlich aus ihrem eigenen Spiel kannte, wollte sie unbedingt. Warum also nicht in Begleitung? Das war eindeutig besser als allein. Judy stellte sich vor, wie sie Adam noch einmal traf, er ihr in einem kahlen, neon-beleuchteten Klo die Bluse aufriss und „Adam Tallis“ in geschwungener Schrift quer über ihre nackten Brüste schrieb. Sie schüttelte sich. „Ja, gerne, ich habe heute noch nichts vor und bin dann um 21.30 Uhr da, okay?“ Georg nickte begeistert und verschwand mit einem Tablett in der Küche.
Am liebsten wäre sie sofort zu Naike gestürzt, um sie zu trösten. Es war einfach furchtbar mit anzusehen, wie sie dort betrübt auf dem Sofa saß, ohne jedes Lächeln, dafür mit einem kalten Kaffee neben sich. Aber es wäre alles andere als schlau gewesen, dadurch noch mehr Verwirrung zu stiften.
Die Sim-Version von Starbucks hatte eine angenehme Atmosphäre, dachte ich mir und bekam schon wieder Kaffeedurst. Doch dafür war keine Zeit. Wenn sie sich auch hier nicht aufhielt, wo sollte ich dann noch suchen? Mein Blick streifte über mehrere Gesichter, eines kam mir bekannt vor, war das nicht Georg Kirschfink? Aber von Judy keine Spur.
„Willkommen zurück, Madame, da sind Sie ja wieder! Geht es Ihnen jetzt besser? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“ Wieso nannte die mich Madame? Sah ich etwa schon so alt aus? Und waren wir hier in Frankreich oder was? - Ach so, stimmt, ich mochte die französischen Anreden ja lieber als die deutschen, und dies hier war schließlich
meine Welt. „Mademoiselle“, korrigierte ich sie frech und dieses unterwürfige Ding entschuldigte sich doch tatsächlich brav, so war’s recht. Ich grinste kurz, aber nur sehr kurz, denn zum Grinsen war mir eigentlich nicht, dann beschrieb ich ihr Judy, und als die Empfangsdame meinte, sie hätte sie mit ziemlicher Sicherheit eben noch an der Bar gesehen, fiel mir erst auf, dass sie mich zuvor begrüßt hatte, als wäre ich vorhin schon einmal hier gewesen. Sim-Naike!
Sie musste es gewesen sein! Verdammt, verbarg denn nicht einmal dieser Klotz von Sonnenbrille mein Gesicht?
Ich bedankte mich höflich für den Hinweis und ging zurück zur Treppe. Wenigstens hatte ich jetzt einen Hinweis, ich musste sie nur knapp verpasst haben. Verflixt aber auch! Zeit für den dritten Kaffee an diesem Morgen, hielt ich eben das übliche Gezittere danach noch mal fr eine Weile aus.
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„Hey, da seid ihr ja schon wieder, wie war der Wandertag?“, begrüßte Sean fröhlich seine Schwestern, als die beiden in Josephs Zimmer gewieselt kamen, wo er gerade ein wenig trainierte.
„Ganz prima eigentlich“, erzählte Marie, „aber dann ist Frau Heidelmayer-Klappsch übel geworden und wir mussten früher zurück. „Och, das tut mir aber leid“, sagte Sean, „magst du mit mir mitmachen? Ich zeige dir die vierte Position.“ Marie hüpfte erfreut wie ein Gummiball, hielt dann aber inne und fragte Johanna vorsichtig: „Bist du bös’, wenn ich hier bleibe und mit Seani übe?“
Zuerst sah Johanna ein wenig beleidigt aus, aber dann lächelte sie und sagte mit einem scharfen Seitenblick auf ihren Bruder: „Aber klar, mach du ruhig Ringelrein mit unserer großen Schwester, sie wird sich sicher sehr darüber freuen. Und Maman wollte doch heute das rosa Tutu für deinen Auftritt vom Schneider holen, nicht wahr, Seani? Ach, ich wäre zu gerne bei der Anprobe dabei.“ Marie starrte Johanna entsetzt an. Sean schnappte nach Luft …
… und Johanna lachte sich scheckig über sein wutverzerrtes Gesicht. Doch dann zog sie es vor, besser schnell Reißaus zu nehmen, noch bevor er sie zu greifen bekam, und sie hörte auch nicht mehr, was er Unschönes hinter ihr her rief.
„Du darfst ihr nicht böse sein“, warf sich Marie in Seans Arme und drückte ihren Bruder fest an sich, „sie ist nur eifersüchtig, dass wir was gemeinsam haben“, erklärte sie für ihr junges Alter erstaunlich einsichtig. „Natürlich darf ich das“, knurrte Sean, „eine Abreibung hat sie in jedem Fall verdient, ich fress’ ihr drei Tage lang den Nachtisch weg, da kannste aber für.“ Marie grinste und war wieder einmal stolz auf ihren Sean. Er war sanft und nachsichtig, und fast immer lieb. Nicht so wie die großen Brüder ihrer Freundinnen, die nichts als Flausen im Kopf hatten und ihre Schwestern manchmal sogar quälten. Aber Sean war auch schon viel älter.
Er war nicht wirklich wütend auf Johanna, nur traurig und verwirrt. Wenn sogar ein so kleines Mädchen schon bemerkte, dass er anders war als andere Jungs, so musste er es wohl auch sein. Seit dem Kuss hatte er Levent nur in der Schule gesehen und kurz, als dieser das Waveboard abholte. Ihre Beziehung schien sich aber nicht verändert zu haben, Levent fuhr die gleiche Kumpeltour wie eh und je. Sean versuchte zum wiederholten Male in sich zu gehen, ob er mehr für seinen Freund fühlte, als normale Freundschaft. Doch er kam zu der Stelle seiner Seele, wo die Antwort verborgen lag, einfach nicht durch und empfand das als furchtbar lähmend.
Am Abend nahm er sein Kostüm, das seine Mutter extra bei einem speziellen Theater-Maßschneider für in abgeholt hatte, aus der Tüte. Der körperbetonte schwarze Anzug war von wundervoller fester Seide und glänzte im Licht seiner Schreibtischlampe. Sachte strich er mit seinen langen, schlanken Fingern darüber und dachte plötzlich an Angelina. Er legte den Anzug vorsichtig über die Stuhllehne, kramte sein Handy aus dem Rucksack und wählte ihre Nummer.