Kapitel 26 - Trost auf vier Pfoten
Kapitel 26 – Trost auf vier Pfoten
Irgendwann wurde Naike unruhig. Zu langes Liegen fühlte sich auch nicht gut an, ihr Körper verlangte nach Bewegung. So entschied sie sich zu einem abendlichen Spaziergang und verbat sich jeglichen Protest seitens ihrer Mitbewohnerin. Sie ging aus dem Haus und lief zuerst ziellos die einsamen Straßen der Insel entlang, bis sie an den Friedhof der Kirche kam, der sie wie magisch anzog. Hier hatte sie vor einiger Zeit Adam nach der Trennung wieder getroffen.
Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen …
... so konnte sie ungestört ihren Kummer beweinen.
Irgendwann wurde es kühl und auf dem Rückweg kam sie an der kleinen Taverne vorbei, die noch geöffnet war, aber es wurden bereits die Stühle reingeholt. Auch hier war sie noch vor kurzem mit Adam gewesen. Eigentlich war sie überall mit ihm, es gab fast keinen Platz ohne Erinnerungen auf der kleinen Insel.
Kein fröhliches Karaoke mehr, überall herrschte nur noch gähnende Leere.
Als Naike auf der Toilette vor Müdigkeit schwindelte, wusste sie, dass es nun dringend wieder Zeit für das Bett war. Sie hoffte auf einen traumlosen Schlaf und bekam ihn auch, der frischen Luft sei Dank.
Doch am nächsten Morgen fühlte sie sich noch immer nicht richtig ausgeschlafen und war sehr blass. "Naike, soll ich Dr. Blythe holen?", fragte Jessica beunruhigt. "Nein. Hast du was von Adam gehört? Ich traue mich nicht, im Krankenhaus anzurufen", fragte sie ängstlich. "Sein Zustand ist unverändert", berichtete ihre Freundin. "Willst du heute zu ihm?"
"Ja, Joe nimmt mich nachher wieder mit. Du, ich habe eine Bitte an dich. Schau für mich in die Karten, ja?" Jessica schüttelte den Kopf. "Nein, Süße, das wäre nicht gut. Ich lege nie auf Leben oder Tod, und du machst das auch nicht, wie du mir noch vor kurzem erzählt hast." Mit diesen Worten ging sie ins Arbeitszimmer, Naike lief ihr hinterher.
"Ja schon. Normalerweise. Aber bitte mach mal eine Ausnahme, ich
muss es wissen!", versuchte sie ihre Kollegin zu überzeugen. Aber Jess blieb hart. "Nein und nochmals nein, Nai, das will ich nicht. Bin außerdem müde und muss noch ein bisschen an meinem Roman schreiben, bitte lass mich jetzt allein. Ich habe dir übrigens ein Chili in die Küche gestellt."
"Ich will nichts essen! Nie wieder!", rief Naike aufgebracht, obwohl sie durchaus ein warmes Essen nötig gehabt hätte. "Lieber verhungere ich, als dass ich weiter hier lebe!"
Jessica wurde Naikes Zustand nun zu ernst, Hilfe musste her. So konnte es nicht weitergehen.
Eine Stunde später kam Besuch. "Naike, schau mal wer hier ist!", rief Jessica aufmunternd. Aber wieder kam nur ein mageres, abwesendes Hallo vom Sofa. Sonst hatte sich Naike immer so sehr gefreut, wenn Voodoo Mom zu Besuch kam. Jessica zog Voodoo Mom beiseite. "Da siehst du es, so kann es doch nicht weitergehen! Ich verstehe ja ihren Kummer. So wenig ich den Typ leiden konnte, aber es ist einfach schrecklich, was passiert ist. Aber sie richtet sich doch selbst zugrunde, wenn sie so weitermacht. Bitte sprich du mit ihr, auf dich hat sie doch bisher gehört!", bat sie ihre Freundin hoffnungsvoll. "Natürlich, ich werde es versuchen", versprach Voodoo Mom.
Sie setzte sich zu Naike aufs Sofa. "Hallo, magst du dich aussprechen?"
"Lieb von dir, aber ich habe nichts zu sagen", antwortete diese desinteressiert. "Schau mal, Kleines, du hilfst doch Adam nicht damit, wenn du dich so hängen lässt. Du bist ja kaum in der Lage, ihn zu besuchen. Es wäre viel sinnvoller, dich aufzuraffen und ihm mit ganzer Kraft zur Seite zu stehen. Ich bin sicher, er würde das genauso wollen." Jetzt sah Naike zu ihr herüber. "Du? Ich habe ihm mal heimlich ein Haar ausgerupft. Dachte, das könnte ich eines Tages noch gebrauchen. Kann man damit etwas erreichen?" Voodoo Mom blickte sie überrascht an. "Meinst du etwa auf magische Weise?"
"Natürlich, was sonst."
"Nein, Liebes, für so etwas ist das nicht zu gebrauchen. Binden wird in diesem Fall nichts nützen, vergiss das ganz schnell wieder. Sei lieber für ihn da, ganz normal wie jede andere Frau auch für ihren Liebsten da ist, wenn er in irgendeine Not geraten ist. Manchmal geschieht dann ein Wunder und alles wendet sich zum Guten", seufzte die erfahrene Hexe. Naike sank wieder in sich zusammen.
*
Auch mit Julia ging es weiterhin bergab, sie aß ebenfalls kaum etwas von dem, was Joe ihr kochte, obwohl er es wirklich gut konnte und ihr nur vom Feinsten servierte. Niemand hatte ihr gesagt, dass man ihre Tante Nastassja in eine psychiatrische Klinik eingeliefert hatte, nachdem man sie nach langem Suchen völlig verwirrt am Strand gefunden hatte. Julia hätte das auch nicht verstanden, deshalb war die Unfall-Version im Moment besser für sie gewesen. Allerdings glaubte sie nun, die Schwester ihres Vaters sei verreist, was ihr sehr unlogisch vorkam, wo es Papa doch so schlecht ging. Joe bekam nun also handfeste Probleme mit seiner Nichte und ihre Mutter war – ihm unerklärlich – noch immer nicht erreichbar.
Deshalb bat er Jessica um Hilfe. "Die Situation gleitet uns aus den Händen."
"Ja, Joe, wir müssen uns etwas ausdenken. Ich hätte da auch schon eine Idee: Was hältst du davon, wenn du mit Julia bei uns in die Simlane 10 ziehst, wenigstens vorübergehend? Naike und Julia können sich vielleicht gegenseitig ein bisschen aufbauen, und ich kann anstelle des Kindermädchens auf sie aufpassen, wenn du bei der Arbeit bist. Das wäre doch ideal!" Joseph Tallis lächelte sehr erfreut über das großzügige Angebot. "Ich werde darüber nachdenken, in Ordnung?" Mach' das, stimmte Jessica zu und ging dann nach oben zu Julia.
"Na du, wie geht es dir?"
"Ich wäre lieber tot“, antwortete Adams kleine Tochter und Jessica hielt den Atem an, ließ sich aber so gut wie möglich nichts von ihrem Schrecken anmerken. "Julia, so etwas darfst du nicht sagen", versuchte sie zu trösten, "denk an deine Mama und Onkel Joe, sie würden dich schrecklich vermissen, wenn du nicht mehr bei ihnen wärst."
"Mama ist doch eh weg, sie hat mich bestimmt nicht mehr lieb. Der Papa hat mich lieb, aber der ist jetzt krank und wird vielleicht nie wieder gesund", schluchzte sie plötzlich los. Jessica fühlte sich völlig hilflos. "Hab Vertrauen, bitte! Onkel Joe hat dich sehr lieb, er würde dich niemals im Stich lassen, egal was passiert. Und Naike und ich sind auch für dich da. Es wird alles wieder gut, ja? Und ich bin auch sicher, dass deine Mama dich sehr liebt. Sie wird sich sicher bald melden." Jessicas Stimme zitterte, die Kleine tat ihr unendlich leid.
In der Nacht fand Joe seine kleine Nichte weinend neben Adams leerem Bett. "Komm mit, Engelchen, ich bringe dich wieder ins Bett. Papa ist nicht hier, er ist doch im Krankenhaus."
Julia war völlig abwesend und ließ sich schlaff in ihres Onkels starke Arme fallen. Joseph dachte noch einmal über das Einzugsangebot von Jessica nach. Es würde ein bisschen eng werden, aber alleine konnte er Julia in ihrer Lage nicht gerecht werden. Eigentlich war die Idee also sehr gut. Wenn da nicht Naike wäre ...
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"Meinen Sie, das wird was bringen, Doc?", fragte Jessica zweifelnd. "Ich denke ja, so etwas hilft oft besser als Antidepressiva. Die lehnt sie ja eh ab, obwohl ich ihr verschiedene Sorten verschrieben habe, ich fand letztens alle Packungen unbenutzt im Müll. "Hast du ihn denn dabei, Quacksalber?", fragte Voodoo Mom frech. "Mensch, nenn mich nicht immer so, alte Voodoo-Tante!", lachte Gilbert Blythe und Jessica wunderte sich, dass die beiden sich duzten. "Ich hab ihn im Auto und gehe ihn jetzt holen. Kommen Sie, Jessica!"
Dr. Blythe übergab Jessica draußen ein kleines Bündel und sie lief damit durch den Sand.
"Hallo Jessi. Weißt du was? Ich dachte mir gerade, es wäre schön, ein Aquarium zu besitzen. Das wäre irre entspannend. Man wird immer so schön duselig, wenn man zu lange vor die Scheiben guckt." Jessica lächelte. "Keine schlechte Idee. Aber um duselig zu werden kannst du dir auch gleich 'ne Tüte anstecken."
"Würde ich ja gerne, aber ich kann keinen Rauch inhalieren, das kratzt so ekelhaft."
"Du, ich glaube, der Doc hat da eine bessere Idee als ein Aquarium oder Tüten. Schau mal, wen ich hier habe!" Überrascht starrte Naike auf den kleinen weißen Welpen, der sich in Jessicas Hände gekuschelt hatte. "Oh Mann, der ist ja ... och, ist der süß!", sprang sie auf und nahm ihn zärtlich in ihre Arme. Jessica war schwer erleichtert, das war offenbar ein Volltreffer! Auch Voodoo Mom lächelte erfreut.
"Und, Voodoo-Tante, hat sie ...?"
"Alles klar, Doc, sie ist eindeutig begeistert", zwinkerte Frau Jones dem jungen Arzt anerkennend zu.
"Ist er nicht wundervoll?"
"Ja, das ist er. Magst du ihm nicht einen Namen geben?" Naike grinste. "Hat er schon. Er heißt Shakespeare."
"Shakespeare?“, lachte Gilbert. "Das ist aber ein großer Name für so einen kleinen Hund."
"Na, er wächst doch noch! War das Ihre Idee, Doc?"
"Sie sind wunderbar, vielen vielen Dank!"
Liebevoll stellte Naike dem kleinen Shakespeare im Haus den von Dr. Blythe ebenfalls mitgebrachten Napf auf und füllte ihn mit Hundefutter allerbester Qualität. Und dann geschah ein kleines Wunder: Als der Kleine zu fressen begann, bereitete auch sie sich zum ersten Mal seit Tagen eine Schüssel heiße Haferflockensuppe und sie schmeckte ihr sogar wieder richtig gut.
Am nächsten Morgen klingelte Joseph schon früh an der Tür der Simlane 10 und die Jessica öffnete. "Guten Morgen, Joe! Mensch, bist du früh. Ich bin ja noch im Hemd!", schämte sie sich ein bisschen. Naike ist aber schon wach, aber willst du sie wirklich jetzt schon zum Krankenhaus-Besuch abholen?" Joe sah für einen Moment zu Boden, er hatte verquollene Augen und wirkte verstört. "Was ist? Was guckst du so komisch? Du siehst richtig schlecht aus!", bemerkte sie besorgt seinen Zustand. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er sie ansah. "Jessica – Adam ist tot."