Kapitel 75 – Spiele es noch einmal, Sam!
Kapitel 75 – Spiele es noch einmal, Sam!
Nachdem sie in Spiegeleiern, Speck und Toast mit Ahornsirup geschwelgt hatten, waren alle heimgekehrten Bewohner der Simlane 10 zu platt, um an diesem Tage noch irgendetwas zu unternehmen. Deshalb war nicht mehr als der Fernseher angesagt, und Naike wollte gerade eine DVD einlegen, als Nicolas zufällig in die Regionalnachrichten zappte. Und dann wiederholte sich ein Szenarium ähnlich wie bei einem Déjà-vu, das sie bereits einige Zeit zuvor schon einmal erlebt hatten.
Naike schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, das glaube ich jetzt nicht. Real-Nai … äh … die Polizei verarscht uns doch nur wieder."
"Aber warum sollten sie das tun?", jubelte Nicolas. "Freu' dich doch, jetzt kannst du endlich wieder tun und lassen, was du willst. So wie du es dir doch schon so lange gewünscht hast!"
Naike dachte nach und beschloss dann, ihre Zweifel Zweifel sein zu lassen und dem Nachrichtensprecher zu glauben. Der lang gesuchte Gewalttäter war also offenbar endlich tatsächlich hinter Schloss und Riegel. Die zwischenzeitlichen polizeilichen Ermittlungen hatten ergeben, dass es sich doch um den Nicht-Ortsansässigen handelte, der bereits beim ersten Zugriff festgenommen worden war. Die Drei waren so erleichtert, dass sie nicht mitbekamen, dass die Sache aber noch nicht endgültig unter Dach und Fach war, da eines der Opfer, Halina Fiechter, inzwischen schwanger war und erst ein DNA-Test nach Geburt des Kindes einhundertprozentige Sicherheit geben würde, dass auch wirklich der wahre Täter in Gewahrsam war. Aber aufgrund der Indizien wurden dennoch bereits jetzt die nächtliche Ausgangssperre und sonstige Vorsichtsmaßnamen aufgehoben.
Naike hatte nun keine Lust mehr auf die DVD, sondern rief gleich Carla an, um mit ihr das Allerneueste zu bequatschen. Ihre Freundin hatte den Nachmittag frei und so beschlossen die beiden, sich sofort zu treffen.
Als sie beim
Chez Poulain, dem kleinen Laden und gleichzeitigem Wohnhaus von Carla und Fiona ankam, verabschiedeten sich die beiden Halbschwestern gerade von Peter Bockhorn, der seine Funktion als Bodyguard der beiden Damen nun beenden konnte. Da fiel Naike ein, dass ja auch Nic bald gehen würde, verdrängte den unerwünschten Gedanken aber schnell wieder.
"Stimmt was nicht?" – "Nee, alles klar, habe bloß Wasser im Ohr." – "Komm, erzähl mal wie es im Lager war! Ist dir Joe tatsächlich nicht erspart geblieben?", grinste Carla breit.
Und dann erzählte Naike alles sehr ausführlich, während die beiden Freundinnen die letzten noch warmen Sonnenstrahlen des Jahres genossen.
"Und? Wirst du diesen Brad Pitt wiedertreffen?", fragte Carla schwer neugierig. "Paul, meine Liebe, er heißt Paul!", lachte Naike herzlich und antwortete dann: "Vielleicht. Ich denke aber, ich rufe nicht zuerst an, da bin ich ganz konservativ."
"War ja klar, sonst immer einen auf Gleichberechtigung machen und wenn es um die Liebe geht, willst du einen Kavalier der alten Schule, der sich für dich die Finger schmutzig macht." – "Stimmt", gab sie kichernd zu.
"Und wie läuft es inzwischen mit Jack?" – "Ach, er arbeitet von morgens bis abends im Hafen, sogar samstags. Wenn wir uns treffen, gucken wir fernsehen und machen ein bisschen rum", grummelte Carla sichtlich frustriert.
"Dann solltest du dir überlegen, was du wirklich willst? Wenigstens ist der Inselschreck jetzt dingfest, so können wir wieder zusammen jederzeit die Gegend unsicher machen!" – "Werden wir! Aber das mit dieser Halina ist ja wirklich'n Ding. Ich hab echt Schwein damals gehabt, dass Jack mich vor diesem Unhold geschützt hat, ein Verbrecher-Kind hätte
ich ganz bestimmt nicht bekommen wollen."
Plötzlich schaute Naike zu Boden. "Ich hatte mal ein "Verbrecher-Kind" in meinem Bauch und hätte es liebend gerne gehabt." Carla war augenblicklich entsetzt über ihre ungeschickte Äußerung. "Naike, das tut mir so leid, so war das doch nicht gemeint! Du warst damals schwanger von einem Mann mit Vergangenheit, den du liebtest, aber doch nicht von einem dahergelaufenen Unbekannten –das ist doch ein himmelweiter Unterschied!"
"Hast ja Recht", entgegnete ihre Freundin traurig und ließ sich tröstend drücken.
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Nur zwei Tage später stand sie aufgebrezelt vor dem Spiegel und sah aufgeregt einem schönen Abend entgegen. Paul hatte angerufen und sie zum Essen eingeladen.
Vorfreudig, aber auch ziemlich nervös, schaute Naike aus dem Taxi, das vor einem sehr eleganten Restaurant gehalten hatte.
Rick's Café Américain – der Name kam ihr irgendwie bekannt vor.
Die Innenräume waren genauso einladend wie die Außenfassade, Paul hatte offenbar Geschmack. Naike sah sich um. Es war noch ziemlich leer an diesem Abend und ihr Date offenbar noch nicht eingetroffen. Wie blöd, die Erste zu sein.
Dann trafen sich zwei verdammt vertraute Blicke.
Naike fühlte sich für einen Moment, als hätte sie eine fette Keule an den Kopf bekommen. Das durfte doch jetzt einfach nicht sein! Nicht jetzt. Nicht an diesem Abend!
Sie atmete einmal tief durch und beschloss, sich keinerlei Irritation anmerken zu lassen, steuerte die Bar an und setzte sich auf einen Hocker direkt gegenüber dem Mann, der wie kein anderer verstand, ihr Wohl und Wehe zu beeinflussen.
"Guten Abend, meine Gnädigste!", grinste Adam über sein ganzes Gesicht, "Was darf es sein?"
"Ein ehemaliger Ordinarius mischt Drinks? Wolltest du dich nicht längst wieder an einer Uni bewerben?" Naike versucht möglichst locker zu klingen, aber dummerweise zitterte ihre Unterlippe.
"Habe ich bereits, aber es ist noch nichts spruchreif. Die Arbeit hier macht mir Spaß." Adam sah tatsächlich deutlich zufriedener aus, als noch vor einer guten Woche, was Naike erleichtert zur Kenntnis nahm.
Seine Wangenwunde, die er sich bei einer Auseinandersetzung mit ihr zugezogen hatte, bevor sie sich endgültig getrennt hatten, war zwar noch immer nicht ganz verheilt, aber die dunklen Schatten unter seinen Augen gewichen. Es fiel ihr schwer, ihren Blick von seinem so vertrauten Gesicht abzuwenden, der Tallis-Magnet hatte noch immer nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt.
"Ich bin hier mit Paul verabredet. Paul O'Meara, weißt du? Der Arzt aus dem Camp", sagte sie schnell. "Klar, weiß ich, wen du meinst. Ein Arzt, wow – eine gute Partie!"
"Arzt in spe, er steht gerade vor den Prüfungen. Außerdem interessiert mich das nicht." Beinahe hätte Naike ergänzt, dass sie genauso auch einen Barkeeper daten würde, aber zum Glück konnte sie sich diese unüberlegte Bemerkung gerade noch verkneifen, was ihr aber dann doch nichts nutzte, denn Adam fragte:
"Also käme für dich tatsächlich auch ein Barkeeper in Frage?" Ihr brach der Schweiß aus. Konnte er etwa Gedanken lesen? Er sah sie einige Sekunden an, die ihr wie Minuten erschienen, ohne eine Antwort zu verlangen und schien über etwas nachzusinnen.
Dann lächelte er und rief dem Mann, der schon die ganze Zeit über die stilvolle Atmosphäre des Cafés mit seiner jazzigen Klaviermusik unterstrichen hatte, zu: "Play it, Sam! Play
As time goes by."
"Ich erinnere mich nicht daran, Chef", entgegnete der elegant gekleidete, schwarze junge Mann.
Naike starrte Adam mit großen Augen an. "Wie bitte?
Chef? Adam, was geht hier ab?"
"Nunja, der Laden hier gehört mir. Möchtest du ihn haben? Ich schenke ihn dir, du wolltest doch immer schon ein Café mit Jessica."
Sie starrte verstört vor sich hin. Adam trocknete in aller Ruhe das zuletzt gespülte Glas ab und stellte es fein säuberlich in Reih und Glied zu den anderen. Dann faltete er sein Handtuch ordentlich und legte es beiseite, umrundete die Theke bis zum Klavier und summte seinem Angestellten Sam das zuvor gewünschte Lied vor.
"Chef, ich kenne
As time goes by, halten sie mich für einen Kulturbanausen?", stellte dieser klar. "Aber ... ist das ihre Naike?"
"Ja, pssst", flüsterte Adam. – "Dann sollte ich es nicht spielen." Adam sah ihn mit festem Blick an. "Vielleicht
sollten Sie es wirklich nicht tun. Aber ich
will, dass Sie es spielen!" Sam, der tatsächlich so hieß, seufzte leise, grinste aber gleichzeitig leicht süffisant, setzte sich zurück ans Klavier und begann zu spielen ...
"You must remember this ..." Als die ersten Töne anklangen, spürte Naike deutlich, wie Adam sich hinter ihr näherte und glitt, als wäre sie eine Marionette an ihren Fäden, vom Barhocker ...
Sie bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle, auch nicht als Adams rechte Hand sich plötzlich ihrem Rocksaum näherte und ihr Kleid in Zeitlupe gerade hoch genug schob, um ihren Slip erreichen zu können. "Hatte ich dir nicht gesagt, dass du kein Höschen tragen sollst, wenn wir zusammen ausgehen?", flüsterte er sanft, aber bestimmt, und schob den Stoff mit seinem Zeigefinger in Zeitlupe vorsichtig zur Seite.
"... no matter what the future brings. As time goes by ..."
Zentimeter um Zentimeter kamen sie sich näher, sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht und er den ihren.
"Ich hatte für 20.30 Uhr einen Tisch bestellt, auf den Namen O'Meara." Naike hielt abrupt inne und sah zur Türe. Paul!
Sie stieß Adam gerade noch rechtzeitig beiseite, bevor Paul sie sah, der ihr kurz fröhlich zuwinkte und dann mit der Restaurantangestellten kurz weiter nach der Reservierung suchte. "Ich liebe dich, du gehörst mir!", sagte Adam leise, als sie sich von im abwandte.
"Ich gehöre niemandem", antwortete sie und ließ ihn stehen.
Paul begrüßte Naike herzlich und sie ihn ebenso, dann nahmen an einem der Tische Platz. Adam hatte sich wieder hinter die Theke verzogen, was sie erleichtert zur Kenntnis nahm ...
... aber er machte ein Gesicht, als hätte er gerade eine Schlacht verloren.